Verkehrsminister Winfried Hermann (mit Helm) führt die Delegation auf dem Hollandrad an – das Städtchen Houten ist ganz auf den Zweiradverkehr ausgelegt. Foto: Verkehrsministerium

Holland hat, was dem Ländle fehlt: eine entspannte Haltung zum Radfahren – und eine mitwachsende Infrastruktur für Pedaleure. Bei einer Reise zu den Nachbarn holt sich Verkehrsminister Winfried Hermann Impulse für die Fahrradpolitik und planerische Anregungen – eine Blaupause für die Landeshauptstadt?

Stuttgart - Man muss das gesehen haben, wie groß das hier ist“, sagt der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) im Utrechter Fahrradparkhaus. Auf der Hauptverkehrsader im Zentrum von Hollands viertgrößter Stadt rollen täglich 37 000 Fahrräder durch – genauso viele Autos passieren jeden Tag die Hohenheimer Straße in Stuttgart. Aber wie bringt man einer Autostadt, einem Autoland das Radeln bei? Vielfältige Antworten hat Hermann bei einer Delegationsreise in die Niederlande erhalten – in Städten wie Eindhoven, Utrecht, Houten und der Region Arnheim-Nimwegen, bei der Velo-City-Konferenz und beim Ritt auf dem Hollandrad.

Dabei wurde deutlich: Die Holländer planen Verkehrsströme anders, bauen Städte anders und haben andere Verkehrsregeln. Dafür kommen sie auf dem Rad schneller voran, benutzen es viel selbstverständlicher und haben weniger Autos und Emissionen in den Städten – aber trotzdem Parkprobleme und Staus in der Rushhour: durch die Drahtesel.

Mit von der Partie sind bei der Reise auch der Karlsruher Baubürgermeister Michael Obert und der Landrat Stefan Dallinger vom Rhein-Neckar-Kreis. Sie haben starkes Interesse daran, Radschnellwege zu bauen und insgesamt die Infrastruktur für den Radverkehr voranzubringen. „Meine Kinder wollen kein Auto“, sagt Landrat Dallinger – „die wollen Mobilität“. Aus dem grün regierten Stuttgart ist kein Vertreter dabei. Für Minister Hermann ist klar: „Je attraktiver die Infrastruktur für Radfahrer ist, umso leichter und lieber nutzen die Menschen das Fahrrad.“

Der Druck auf Kommunen nimmt zu

Dass die Holländer lieber radeln als die Menschen hierzulande, liegt nicht nur an der Topografie. Im Zeitalter der E-Bikes greift dieses Argument auch in hügeligen Städten wie Stuttgart nicht mehr. Dafür wird in Zeiten von Feinstaubalarm und drohenden Fahrverboten für manche Diesel der Druck auf Kommunen immer größer, Mobilität anders zu organisieren: emissionsärmer und nachhaltiger. Dieser Herausforderung stellt sich auch Hermann. Auf der Reise nach Holland will er von den Nachbarn lernen. „Mein Hauptziel war zu schauen, wie man in Holland mit dem hohen Anteil an Fahrradfahrern umgeht, welche Infrastruktur man braucht, wie sie ihre Radschnellwege anlegen, wie sie funktionieren und wie sie das politisch durchbekommen haben“, sagt Hermann.

„Baden-Württemberg hat das Ziel, den Anteil des Radverkehrs an der Mobilität landesweit auf 20 Prozent zu steigern“, berichtet der Minister auf der Velo-City-Konferenz in Nimwegen. Dazu beitragen soll auch der Ausbau von Radschnellwegen: „Mein Ziel ist, bis 2025 zehn solcher Strecken in Baden-Württemberg hinzukriegen.“ Doch noch ist das Land davon meilenweit entfernt. Für 29 Strecken wurden Anträge gestellt – darunter auch aus den Regionen Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg. Aus Stuttgart nicht. „Wir prüfen die Potenziale und entwickeln Standards“, berichtet Hermann.

In Oslo habe man viele Autostellplätze aus der City entfernt, um Platz für Radwege zu schaffen, berichtet das Stadtoberhaupt Marianne Borgen auf der Konferenz. „Aber das war harte Überzeugungsarbeit.“

Verkehrsströme entflechten

Zu den wichtigen Prinzipien der niederländischen Verkehrspolitik gehört es, Radlern und Autofahrern getrennte Fahrbahnen zuzuweisen. In besonderer Weise hat das die Stadt Eindhoven mit ihrem Hovenring umgesetzt – eine mit Abspannseilen an einem Pylon aufgehängte kreisförmige Brücke für Radfahrer über einer großen Autokreuzung – diese wurde tiefergelegt. „Man wollte mehr Kapazität für Autos schaffen“, berichtet Projektmanager Irmo Kaal – und grinst. Elf Millionen Euro hat das 2012 eröffnete Bauwerk gekostet, davon allein 6,3 Millionen Euro die Brückenkonstruktion. 40 Prozent übernahm die Gemeinde Eindhoven, 60 Prozent gab es an Förderung – „nicht für den Rad-, sondern für den Autoverkehr“, so Kaal. Herausgekommen ist eine großzügige Passage, 4,5 Meter breit und mit nur geringer Steigung. Neben Radlern nutzen auch Fußgänger, Mopeds und Motorroller den Ring.

Verkehrsminister Winfried Hermann zeigt sich von dem Bau begeistert. Es sei nicht nur „ein Beispiel für eine spektakuläre Kreuzungsarchitektur“, sondern dahinter stecke auch „eine clevere Kommunikationsstrategie“. Er könne sich so etwas auch in Stuttgart vorstellen, so der Minister – etwa beim Hauptbahnhof, der Charlottenplatz-Kreuzung oder am Österreichischen Platz. Das würde die Radler in der Landeshauptstadt sicher freuen. Bisher müssen sie sich gemeinsam mit Fußgängern über den schmalen Ferdinand-Leitner-Steg quetschen, und anstelle des früheren Stegs zum Wilhelmspalais müssen sie zweimal auf Ampelgrün warten – und stehen dann vor einer Treppe.

Radschnellwege zur Entlastung

Die Region Arnheim/Nimwegen hat Radschnellwege gebaut, um Pendler zum Umstieg aufs Rad zu motivieren und die Zufahrtsstraßen zu entlasten. Der 17 Kilometer lange Rijn-Waalpad verbindet Arnheim und Nimwegen. Die rot asphaltierte Strecke ist vier Meter breit und verläuft mithilfe von beleuchteten Unterführungen kreuzungsfrei. Und: kein Verkehrslärm. „Das bringt was, wenn man nicht dauernd anhalten muss – kein Vergleich zu unserer Gondelei“, meint Minister Hermann.

Von Radschnellwegen können die Stuttgarter nur träumen. Die Stadt hat keinen beantragt. Auf dem 20 Kilometer langen Tallängsweg zwischen S-Vaihingen und Bad Cannstatt haben Radler nur auf dem kurzen Abschnitt Tübinger Straße Vorfahrt, ansonsten gibt es Zwangsstopps durch Ampeln oder parkende Autos.

Quartiere anders planen

Das schnell wachsende Städtchen Houten, mit seinen 48 000 Einwohnern etwas kleiner als der Stuttgarter Osten, ist mit 44 Prozent Radfahreranteil eine echte Fahrradstadt. Das sei Absicht, sagt der Beigeordnete Kees van Dalen. Man habe die neuen Quartiere nach anderen Leitideen geplant als bisher üblich: nämlich zuerst die Grünflächen, als Zweites die Rad- und Verkehrswege und als Drittes erst die Bebauung – im Zentrum Wohnen, Kitas, Schulen und draußen Industrie, Business, Sportanlagen. Der Autoverkehr erfolgt über einen Ring, wo Radfahren verboten ist. Drinnen haben Radler auf den sternförmig angelegten Radwegen Vorrang. Die Verkehrskreisel sind getrennt: oben Autos, unten Radler. Beim Durchradeln haben die Delegationsteilnehmer ein bisschen das Gefühl von Disneyland: ungefährdet spielende Kinder, viel Grün, kein Lärm.

„Diese Ruhe, die diese Stadt ausstrahlt“, beeindruckt Minister Hermann. Man könnte doch auch aus dem Stuttgarter Rosensteinviertel ein solches Zukunftsquartier der Smart Mobility machen, meint er. Die Internationale Bauausstellung biete die Chance, so etwas auszuprobieren.

Parkhäuser für Fahrräder bauen

Utrecht ist mit 340 000 Einwohnern etwas größer als Münster in Westfalen und mehr als halb so groß wie Stuttgart. Hollands viertgrößter Stadt gelang es, viele Autos aus der City zu vertreiben und einen Radfahranteil von 26,1 Prozent zu erreichen. Dafür hat Utrecht jetzt ein neues Problem: In der Innenstadt türmen sich die geparkten Drahtesel, zum Teil blockierten sie Straßen für Rettungs- und Müllfahrzeuge und den Eingang zum Hauptbahnhof. Inzwischen schaffen mehrere Fahrradparkhäuser ein wenig Abhilfe – und mehr Übersicht für die Parker –, sie reichen aber nicht aus. Derzeit entsteht ein weiteres Parkhaus für 12 500 Fahrräder, so dass schon bald 22 000 ausgewiesene Radparkplätze im Bahnhofsumfeld bereit stehen. Zum Vergleich: Münster hat mit 3500 Plätzen die größte Radstation Deutschlands. In Utrecht sind die ersten 24 Stunden übrigens kostenlos.

„Wir müssen noch mehr an Fahrradparkhäuser denken, besonders am Hauptbahnhof“, meint Minister Winfried Hermann. In Freiburg, Ravensburg und Offenburg gebe es dies längst – in Stuttgart aber nicht.

Straßen und Stadt umgestalten

Es gehört schon Mut dazu, einen bestehenden Hauptbahnhof – den größten Hollands – samt der umgebenden Straßen radikal umzugestalten, wie Utrecht das getan hat. 330 Millionen Euro hat der Bahnhof gekostet – ein lichtdurchfluteter, heiter anmutender Bau mit geschwungenem Dach verbindet die City Ost mit der City West. Eine mehrspurige, tiefergelegte Zufahrtsstraße soll geflutet werden, die Ufer sollen Platz für urbanes Leben bieten: für Cafés und Wege für Fußgänger und Radler. Auch die Umgestaltung von Wohnstraßen nach holländischer Art wäre in Stuttgart wohl schwer durchzusetzen: auf einer Seite auf die Autoparkplätze zu verzichten und dafür mehr Raum für Radler, Fußgänger und Bäume zu bekommen. Allerdings: Staus gibt es auch in Utrecht – Radlerstaus. Zur Rushhour geht rund um den Hauptbahnhof kaum noch was. Allerdings mit deutlich weniger Emissionen als in Stuttgart.