Wo viel Strom verbraucht wird, gibt’s Energie bald günstiger Foto: dpa

Weil große Firmen Vergünstigungen erhalten, müssen Haushalte mehr für Strom zahlen.

Stuttgart/Berlin - Ein Mann hat in den kommenden Wochen bei der Bonner Bundesnetzagentur einen besonders aufreibenden Job – der Hausbote. Im futuristischen Behördenbau – Tulpenfeld 4, 53113 Bonn – erwartet man dieser Tage Post von überall aus der Republik. Denn Dutzende Unternehmen von Kiel bis Konstanz haben bis Jahresende die Möglichkeit, sich ganz legal aus der Finanzierung der grünen Energiewende auszuklinken. Und es ist die Bonner Regulierungsbehörde, die nach Prüfung der Daten den Daumen hebt oder senkt.

„In den Top-Etagen der deutschen Industrie herrscht Goldgräberstimmung“, sagt ein Eingeweihter. „Da werden gerade viele Formulare ausgefüllt.“

Kein Wunder, denn ab Januar 2012 bekommen große Energieverbraucher, die es darauf anlegen, ihren Strom quasi portofrei ins Werk geliefert. Von den sonst für den Stromtransport anfallenden Kosten, den sogenannten Netzentgelten, können sie sich vollständig befreien lassen. Für die Benutzung der rund 1,7 Millionen Kilometer langen Stromtrassen im Land entrichten sie dann keinen Cent mehr – ein Privileg, das sonst niemandem in der Republik zusteht.

Strom wird erheblich teurer

Otto Normalverbraucher beispielsweise zahlt aktuell etwa sechs Cent je Kilowattstunde, nur damit der Strom den Weg zu seiner Steckdose findet. Eine Durchschnittsfamilie kommt so leicht auf jährliche Stromtransportkosten von 250 Euro. Bei mittleren Gewerbebetrieben können die Netzentgelte leicht fünfstellige Beträge erreichen.

Eine Anfang August dieses Jahres in Kraft getretene Gesetzesnovelle nimmt nun just die Champions League der großen Energieverbraucher der Republik von der Zahlung der Netzentgelte aus. Die Folge: Für alle anderen wird es erheblich teurer.

Welches Ausmaß der Ablasshandel zugunsten der Großkonzerne hat, haben jüngst die vier großen Übertragungsnetzbetreiber der Republik beziffert. Nach ihren Prognosen zahlen die Stromkunden brutto rund 0,55 Cent je Kilowattstunde mehr, nur weil die Industrie sich aus der Verantwortung stiehlt. Ein Informationspapier, das der Branchenverband BDEW aktuell an Energieversorger und Stadtwerke verschickt und das unserer Zeitung vorliegt, beziffert die Entlastung für BASF, Bayer, Krupp und Co auf „bis zu eine Milliarde Euro“ – pro Jahr. Weil die Unternehmen sogar die Möglichkeit haben, sich rückwirkend für das gesamte Jahr 2011 von den Netzentgelten befreien zu lassen, werden sich die Kosten im kommenden Jahr einmalig wahrscheinlich sogar verdoppeln, auf gigantische zwei Milliarden Euro.

Industrielobby hat ganze Arbeit geleistet

Das veritable Bonbon, das Industrielobbyisten der Bundesregierung dem Vernehmen nach in einer Nacht-und-Nebel-Aktion bei den Beratungen der Gesetze zur Energiewende abgerungen haben, erregt nun allerdings auch den Unmut von Verbraucherschützern und Opposition.

Bärbel Höhn, die als stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen auch für den Bereich Energie zuständig ist, kann sich angesichts der Regelung „nur die Haare raufen“. Weil die Stromgeschenke für die Industrie an anderer Stelle wieder hereingeholt werden müssten, zahlten die Zeche die gewöhnlichen Verbraucher. „Ein Durchschnittshaushalt dürfte mit rund 30 Euro nächstes Jahr zusätzlich zur Kasse gebeten werden“, sagt sie. Bei einem mittelständischen Unternehmen kämen schnell über 60 000 Euro zusammen.

„Grotesk“ und „weit abseits jeder Logik“ findet auch Aribert Peters, Vorsitzender des Bundes der Energieverbraucher, die Entlastung der Großbetriebe. Immerhin seien sie es, die die Stromleitungen mit der Abnahme gigantischer Mengen Energie am meisten belasteten. Weil kleine und mittelständische Firmen sowie gewöhnliche Haushalte benachteiligt würden, sieht Peters in der der Regelung zugrundeliegenden Stromnetzentgeltverordnung einen Verstoß gegen EU-Recht. Eine Beschwerde vor der zuständigen EU-Binnenmarktkommission sei in Vorbereitung, sagt Peters.

Netzentgelte, EEG-Umlage: Vergünstigungen überall

Und auch aus der Energiewirtschaft selbst bekommen Opposition und Verbraucherschützer Rückendeckung. Thomas Mahlbacher, Chef der Stadtwerke Fellbach, eines der großen Energieversorger im Stuttgarter Umland, hält den Industrie-Bonus für Unsinn. „Wieso sollten Transportkosten umsonst sein?“, fragt er. Kein Mensch käme auf die Idee, große Firmen, die ihre Güter via Autobahn transportieren, von der Maut zu befreien. Das Sahnehäubchen für die Großindustrie will dem Stadtwerke-Chef einfach nicht einleuchten. „Wie soll ich meinen Kunden erklären, dass sie ab Januar mehr für Strom bezahlen müssen, weil große Firmen einen Bonus bekommen?“, fragt er.

Tatsächlich sind die Netzentgelte, die aktuell rund ein Viertel am Endkundentarif von rund 23 Cent je Kilowattstunde Strom ausmachen, nicht die einzige Preiskomponente, um die sich Industriefirmen herummogeln.

Besonders Großverbraucher ab einem Energiebedarf von 100  000 Kilowattstunden pro Jahr haben sich in den vergangenen Jahren hinter den Kulissen erhebliche Vergünstigungen erstritten. Stromsteuer, Konzessionsabgaben oder KWK-Umlage, über die der Ausbau der besonders effizienten Kraft-Wärme-Kopplung vorangetrieben werden soll, sind für die energieintensive Industrie gedeckelt oder fallen sogar ganz weg.

Am besten hat die Lobbyarbeit der Konzerne aber bei der sogenannten EEG-Umlage funktioniert. Nach Inkrafttreten des zugrundeliegenden Erneuerbaren-Energien-Gesetzes im Jahr 2000 brauchte die Industrielobby rund drei Jahre, um das Gesetz mit Ausnahmen zu durchlöchern. 2004 waren die ersten Unternehmen von dem Obolus zur Finanzierung der grünen Energiewende in Deutschland befreit. Und mittlerweile ist die Zahl der privilegierten Betriebe nach Expertenschätzungen auf rund 600 angewachsen.

Geschenke im Wert von fünf Milliarden Euro

Die Konsequenz: Vom deutschen Gesamtstromverbrauch von jährlich rund 540 Terawattstunden sind 13 Prozent – das entspricht etwa 74 Terawattstunden pro Jahr – von der Umlage befreit. Tendenz: steigend. Immer weniger, meist kleine Stromverbraucher müssen also immer höhere Kosten tragen.

Würde man alle Vergünstigungen zusammennehmen, die der Industrie 2012 eingeräumt werden, käme man auf rund fünf Milliarden Euro, schätzt Holger Krawinkel, Energieexperte des Verbraucherzentrale- Bundesverbands.

Die Industrie weist die von Verbraucherseite erhobenen Vorwürfe zurück. „Die Industrien benötigen international wettbewerbsfähige Strompreise“, sagt etwa Winfried Golla, Geschäftsführer des Chemie-Branchenverbands VCI im Land. Die jetzt kolportierten Zahlen zur Entlastung der einzelnen Branchen seien viel zu hoch. Außerdem könne in ihnen „ nicht der Grund für den Anstieg der Strompreise“ gesehen werden.