Millionen Deutsche flohen vor und nach dem Kriegsende 1945 vor den anrückenden sowjetischen Truppen aus Ostpreußen. Aber auch in den anderen Teilen des untergegangenen Deutschen Reiches herrschte Chaos und Not. Foto: NDR

Es war eine emotionale Veranstaltung: Senioren haben sich im Gemeindezentrum im Asemwald getroffen, um über ihre Erlebnisse während des Kriegsendes zu sprechen. Dass die seelischen Wunden noch nicht verheilt sind, zeigte sich deutlich.

Asemwald - Es scheint, als hätten sie viel zu lange geschwiegen. Kaum sitzen die Besucher des Seniorennachmittags im ökumenischen Gemeindezentrum Asemwald im Kreis zusammen, setzt ein Reigen der Schreckensberichte aus den letzten Tagen des Krieges ein. Die emotionale Erschütterung der Senioren ist auch nach so langer Zeit mit den Händen zu greifen. Immer wieder scheinen Teilnehmer den Tränen nahe, ihre Stimmen brechen.

Es ist die Generation der Kriegskinder in das Gemeindezentrum gekommen. Älter als zehn Jahre war damals keiner, der in der Runde sitzt. Ihre Eltern mögen in der einen oder anderen Weise in der Lage gewesen sein, Entscheidungen zu treffen, beispielsweise wie sie sich zum Nationalsozialismus positionieren. Sie selbst wurden in eine aus den Fugen geratene Welt hineingeboren. Das Gefühl, keine Wahl zu haben und machtlos Umständen ausgeliefert zu sein, zieht sich dann auch als roter Faden durch die Berichte der Teilnehmer.

Da sind diejenigen, die aus dem ehemaligen Ostpreußen stammen und die Flucht und Vertreibung in den deutschen Südwesten führten. Sie mussten erleben, dass ihre Eltern nicht in der Lage waren, sie zu beschützen und dass sie vor den russischen Soldaten zitterten wie Kinder im Dunkeln.

Positive Erinnerungen an die Amerikaner

Diejenigen, die auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik aufwuchsen, schilderten ganz unterschiedliche Perspektiven auf die vorrückenden Westalliierten. Gerade die Amerikaner, die Kinder mit Cadbury-Schokolade überhäuft zu haben scheinen, werden als vergleichsweise humane Ordnungsmacht geschildert.

Viele betonen aber auch Gesten der Menschlichkeit seitens der russischen Besatzer. Ein Soldat habe ihrer Familie immer Brot geschenkt, berichtet eine Frau. „Das musste er bei uns im Misthaufen verstecken. Das war ja streng verboten“, sagt sie. Für Entsetzen sorgen Schilderungen von den Gräueltaten der SS an der kriegsmüden deutschen Bevölkerung. Ein Mann aus Schwäbisch Hall berichtet davon, wie in einem Nachbardorf viele Bewohner an Bäumen aufgehängt worden sind, weil sie kurz vor dem Eintreffen der Alliierten weiße Tücher hissen wollten.

Alle Erzählungen enthalten Schilderungen nackter existenzieller Not. Eine gebürtige Hamburgerin berichtet vom Hunger. Geschwüre hätten sich bereits auf ihrer Haut gebildet, erzählt sie. Die Butterration hätte den Hotelportionen entsprochen, die es heute beim Frühstücksbüfett gebe. „Meine Mutter wollte, dass ich mir die winzige Menge Butter einteile. Aber ich habe mir immer ein Brot damit beschmiert, weil ich die Butter auch schmecken wollte“, sagt die Seniorin.

Todesangst im Wald

Eindringlich schildert eine andere Teilnehmerin, wie sie sich nach dem Kriegsende beim Holzsammeln mit ihrer Mutter im Wald verirrt hat. „Nach 12 Uhr haben die Franzosen in dem Wald mit ihren Gewehren geübt, aber ich habe nicht rausgefunden“, berichtet sie. Am Ende trifft sie einen anderen Holzsammler, der sie sicher nach Hause bringt. „Engel“ nennt sie ihn.

Nichts aus den Tagen vor und nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 scheint vergessen zu sein. Ein Teilnehmer der Veranstaltung erwähnt die sich zuspitzende Ukraine-Krise. Wer den Schilderungen der Senioren zugehört hat, versteht, warum Deutschland als ängstliches Land gilt. Verbündete rügen es dafür, weil es der Parole Frieden um jeden Preis folge. Auch die Teilnehmer diskutieren, wie sich ihre Traumata auf Kinder und Enkel ausgewirkt haben, und wie die Wunden des Krieges Deutschland bis heute prägen. Eine Teilnehmerin bezeichnet ihre Generation als die Davongekommenen. Zumindest in dieser Runde wird das Bedürfnis, das Grauen endlich in Worte zu fassen, überdeutlich. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, den Schmerz zu verarbeiten.