Die wichtigste Aufgabe für Väter: dabei sein, Anteil nehmen, zuhören, die eigenen Werte vorleben. Foto: dpa

Was bleibt übrig vom Mann, wenn seine Privilegien fallen und Geschlechter frei gewählt werden? Für Kleinkinder ist die Antwort einfach . Doch was können Väter ihren Söhnen heute vorleben und mitgeben? Ein Vorschlag.

Stuttgart - Die „Gender Revolution“ sei in vollem Gange, titelte kürzlich das renommierte Magazin „National Geographic“. Sein Januar-Cover zeigt die neunjährige Avery Jackson, als Junge geboren, die als Mädchen leben will. Die Macher des Heftes geben sich überzeugt: Die Menschheit erlebe gerade, wie sich ihre Zweiteilung in Männer und Frauen auflöse, und die Wissenschaft könne als Wegweiser in der sich wandelnden Welt der Geschlechtsidentitäten dienen.

Dahinter steht die Annahme, Geschlechter würden von der Gesellschaft geformt. Demgegenüber scheint die Idee, in der kommenden Woche den Vatertag zu begehen, aus der Biedermeierzeit zu stammen. Fragen drängen sich auf: Was überdauert von dem Männerbild, das die heutige Vätergeneration von ihren Vätern mitbekommen hat? Was sollen diese Männer ihren Söhnen, die eines Tages womöglich selbst Vater werden, mitgeben? Und welche Diskussionen sind es wert, geführt zu werden im Spannungsfeld von Gendereuphorie und Männerrechtlern?

Auf der Suche nach dem neuen Männerbild sind wir heute nicht viel weiter als Herbert Grönemeyer, der vor 33 Jahren seine „Männer“ besang – als Annäherung, als ein Bündel aus Widersprüchen, verpackt in Ironie. Wer wollte heute auch ernsthaft eine Antwort geben auf die Frage: Wann ist ein Mann ein Mann? Offensichtlich entsteht ein großer Teil unserer geschlechtlichen Identität aus einem sozialen Ordnungssystem. Ändert sich dieses, wie in den vergangenen 40 Jahren geschehen, werden die Identitäten infrage gestellt.

Das Jammern über den benachteiligten Mann hilft nicht weiter

Sicherlich, es gibt sie noch, die Männer, die mit den klaren Positionen ihrer Väter den Diskurs über die Geschlechterrollen in einen Brüllwettbewerb verwandeln wollen. Donald Trump begrüßen sie als Fürsprecher der unterdrückten weißen Männer. Ihre Privilegien scheinen gottgegeben. Sie bejammern die höhere Selbstmordrate von Männern, deren statistisch kürzere Lebenszeit, die höhere Unfallrate, die Situation der Schüler – und machen dafür den feministisch unterwanderten Staat verantwortlich, statt sich selbst zu fragen, was Männer dazu bringt, Arztbesuche zu verweigern, Hilfe nicht anzunehmen, nicht die eigenen und nicht die vom Staat gesetzten Grenzen zu akzeptieren: ihr eigenes Männerbild. Das Wehklagen dieser Maskulinisten über die Ungerechtigkeit, nicht mehr in einer männerzentrierten Welt zu leben, erinnert ein wenig an die Südstaatenromantik des Ku-Klux-Klan. Bei Lichte betrachtet wirkt es, nun ja, ein wenig unmännlich.

Doch sie treffen damit den Nerv nicht weniger Geschlechtsgenossen. Immerhin 27 Prozent der deutschen Männer sehen, aktuell befragt vom Bundesfamilienministerium, den „überlegenen, harten, unabhängigen Mann“ – den Macho – als Leitbild, und die Frau in einer unterlegenen Position. Hinzu kommen 17 Prozent der Männer, die ihre Rolle noch immer als traditioneller Haupternährer der Familie definieren, was in etwa dem Bild des Familienvaters vor 50 Jahren entspricht. Zwar besteht diese Gruppe überwiegend aus älteren Männer, aber eben nicht nur.

Weitere 17 Prozent der Männer sprechen sich hingegen dafür aus, männliche Identität mit Blick auf die Gleichberechtigung der Frau neu zu definieren. Die übrigen 39 Prozent der Männer vermeiden eine Festlegung. Sie wollen ihr diffuses Profil der Männlichkeit nicht diskutieren und empfinden die Veränderungsprozesse als bedrohlich. Sie wollen ihre Ruhe.

Charlton Heston als Rollenvorbild

Es bleibt ein Rätsel, wie jene 44 Prozent der Männer die Zukunft gestalten wollen, die ihrem inneren Charlton Heston huldigen, und wie sie ihre Söhne auf das 21. Jahrhundert vorbereiten. Hoffen sie auf die Kraft hinhaltenden Widerstandes? Rüsten sie sich für einen neuen Geschlechterkampf? Oder begnügen sie sich damit, um die 15 Prozent der Frauen zu konkurrieren, die dieses Männlichkeitsideal attraktiv finden? Die Haltung der 39 Prozent indifferenten deutschen Männer bietet scheinbar sogar einen Ausweg aus der anstrengenden Geschlechterdebatte: Womöglich kann man sich um klare Antworten auf komplizierte Fragen herumwursteln, und jeder findet im Privaten seinen eigenen Weg – wäre da nicht die Penis-Frage.

Scheinbar einfach: jeder Penis-Träger ist ein Mann

Kinder lieben Ordnungssysteme, weil sie ihnen helfen, die Welt zu begreifen. Die Aufteilung in Mann und Frau ist eine der ersten, die Babys verstehen; davor kommt nur „groß“ und „klein“. Und schnell erkennen sie, wie leicht es ist, diese Geschlechterordnung herzustellen: Wer einen Penis hat, ist ein Mann. Die Biologie legt aber neben diesem offensichtlichen noch weitere Merkmale an, die sich auf das Leben der Jungen lange auswirken. Schon männliche Föten – das gilt auch bei Affen – haben Studien zufolge einen größeren Bewegungsdrang als weibliche. Und vom ersten Lebenstag an haben sie gegenüber ihren weiblichen Artgenossen einen Entwicklungsrückstand, der erst im frühen Erwachsenenalter aufgeholt wird.

Schon im Kindergarten, befördert von den Geschlechterstereotypen ihrer Eltern, haben Jungen ein Bild von ihrer Männlichkeit. Damit einher geht oft die Bildung einer ersten Peer-Group. Körperliche Überlegenheit, vielleicht schon explizite sportliche Fähigkeiten, ein Bewegungsdrang, der konzentrierte kreative Arbeiten, vor allem kombiniert mit häufigen Entwicklungsverzögerungen, erschwert. Das alles grenzt die Jungen ab von den Mädchen – und nicht selten auch von den Erzieherinnen, die den Alltag dominieren.

Es ist nicht nötig, womöglich sogar nutzlos, sich all dem als Vater entgegenzustellen. Der Mann muss auch seine eigene Geschlechterprägung nicht verleugnen. Fatal wäre nur, das alte Männerbild von Stärke, Überlegenheit und Verschlossenheit zu idealisieren. Es gilt, das biologische Geschlecht anzuerkennen, darauf Bezug zu nehmen und den Kindern ihre kulturelle Geschlechteridentität entwickeln zu helfen. Es gilt, die Kinder mit dem Ordnungssystem Mann/Frau vertraut zu machen, ihnen Orientierung zu ermöglichen, Sicherheit, ohne sie einzuengen. Und manchen Rüffel, den die Jungs im Kindergarten kassieren, einzuordnen, ohne ihn abzutun. Natürlich würde es im Kindergarten helfen, wenn mehr Erzieher als Rollenvorbilder der Jungs arbeiten würden. Doch dieser Weg ist noch lang. Bis dahin sind die Väter ganz besonders gefragt.

Seit 25 Jahren währt die Diskussion um die Bildungsverlierer

Zapplige Jungs, die die Ordnung der Gruppe stören, in der eigenen Peer-Group ihr Rebellentum pflegen und gegenüber den scheinbar übermächtigen Mädchen schnell mit Verweigerung reagieren – das beginnt als kleine Friktion im Kindergarten, kann in der Schule aber zu großen Problemen führen. Jungs als Bildungsverlierer – dieses Phänomen wird seit 25 Jahren diskutiert, ohne dass sich Wesentliches verändert hätte. Weniger Jungen als Mädchen machen Abitur, fast doppelt so viele verlassen die Schule ohne Abschluss, oft sind die Noten schlechter, vor allem in sprachlich dominierten Fächern. Und mehr Jungs bleiben sitzen.

Unumstritten ist, dass Mädchen häufiger Verhaltensweisen zeigen, die schulischen Erfolg erleichtern: Sie sind im Schnitt fleißiger, gewissenhafter und motivierter als Jungs. Sie reagieren größtenteils auf Misserfolg nicht mit Verweigerung, sondern verstärken ihre Anstrengung. Die Gründe für diese Jungenkrise wie auch die Lösungsmöglichkeiten sind umstritten. Mehr männliche Lehrkräfte könnten helfen – als konstruktive Rollenvorbilder und mit ihrem spezifischen Verständnis männlicher Bedingtheiten. Mehr jungenspezifische Themen im Unterricht könnten Lernerfolge begünstigen, und die jungenspezifische Förderung müsste stärker ins Blickfeld rücken, bis hin zur Geschlechtertrennung in einzelnen Bildungsphasen.

Doch zwei Felder müssen die Eltern, und hier vor allem die Väter als Rollenvorbilder, im Blick behalten. Die Lesefähigkeit, Kreativität bei der Problemlösung oder die Kommunikationsfähigkeit sollten bei Jungen besonders gefördert werden. Und Väter sollten ihren Söhnen nach Kräften helfen, männlich definierte Tugenden um weibliche Anteile zu ergänzen – Frustrationstoleranz zum Beispiel und Teamfähigkeit. Jungs müssen Jungs sein dürfen und können trotzdem von Mädchen lernen. Das ist nicht ehrenrührig, es schränkt ihr Autonomiebedürfnis nicht ein. Wer das schwache Geschlecht ist? Wen kümmert das.

Machos sind häufig schlechter in der Schule

Hier schließt sich der Kreis, denn das eigene Verständnis von Männlichkeit ist die Grundlage für die Aneignung neuer, identitätsstiftender Wesensmerkmale. Eine Reihe von Studien zieht hier eindeutige Schlüsse: Je traditioneller das Rollenverständnis der jungen Männer in der Schule, desto größer ist die Gefahr des Scheiterns. Die vermeintlich überlegene Persönlichkeit wird durch schlechte Noten und den Vergleich mit den teils sehr erfolgreichen Mädchen gekränkt. Leistungsverweigerung ist oft die Folge. Bisweilen fehlt sogar die Einsicht, sich überhaupt anstrengen zu müssen. Denn der Blick auf die Erwachsenenwelt führt zu einem Trugschluss: Sie ist bislang dominiert von Männern, sie haben im Zweifel die besseren Chancen – warum sollte sich das ändern? Ein Scheitern ist nicht vorgesehen. Doch diese Welt wird sich ändern. Das zu vermitteln ist auch Aufgabe der Väter.

Nicht nur deshalb muss die Gleichberechtigung von Mann und Frau als unabdingbare Grundlage des Zusammenlebens vorgelebt werden. Dazu muss Mann kein Heiliger sein, aber das Prinzip akzeptieren, auch wenn es die eigene Beförderung scheinbar gefährdet. Es gilt, die gesellschaftlichen Fortschritte für alle zu vertreten und die Herausforderung anzunehmen für den eigenen Lebensweg: Die Privilegien des Patriarchats fallen weg, aber das Privileg, mit dem Partner auf Augenhöhe sein Leben zu teilen, kommt hinzu.

Wann ist ein Mann ein Mann?

Doch was bleibt dann noch übrig an Merkmalen für eine moderne männliche Identität? Was könnte einen Mann heute zum Mann machen? Was würde als Vorbild für seine Söhne taugen?

Eine Annäherung, ein Vorschlag ohne Anspruch auf Ausschließlichkeit sei versucht: Überzeugungskraft, gepaart mit Standfestigkeit ohne Repressionsgelüste, Ironiefähigkeit ohne Sarkasmus und Beliebigkeit, Zärtlichkeit ohne Aufdringlichkeit, Schwäche zuzulassen, ohne sie vor sich herzutragen, Risikobereitschaft, ohne andere Risiken auszusetzen, seine Grenzen auszutesten, ohne sie zu ignorieren, wehrhaft zu sein, ohne übergriffig zu werden, Leidenschaft zu zeigen, ohne triebhaft zu werden, seine Integrität zu verteidigen, ohne ehrpusselig zu werden, ritterlich zu sein, ohne lächerlich zu wirken.

So muss ein Mann nicht sein – und auch Frauen können sich jede dieser Eigenschaften zu eigen machen. Trotzdem ist die Kombination all dieser Wesenszüge, abgeleitet aus den biologischen und den kulturellen Geschlechtsmerkmalen, und den Erwartungen der Frauen, wie sie in der erwähnten Umfrage des Bundesfamilienministeriums zutage treten, womöglich ein Profil für die Menschen, die Orientierung wollen oder brauchen – ein Männerbild, das auch in Zeiten überdauert, in denen jeder sich sein Geschlecht aussuchen kann.