Spielt lieber ungewöhnlich: die Kalifornierin Lindsey Stirling Foto: promo

Lindsey Stirling ist schwer beschäftigt. So schwer sogar, dass sie ihre Interviewtermine auf dem Stepper wahrnimmt. Außer Atem kommt die 27-Jährige so schnell aber nicht.

Lindsey Stirling ist schwer beschäftigt. So schwer sogar, dass sie ihre Interviewtermine auf dem Stepper wahrnimmt. Außer Atem kommt die 27-Jährige so schnell aber nicht.

Vom Castingshow-Teilnehmer der amerikanischen „Superstar“-Variante zum YouTube-Sternchen zum medial ausgeschlachteten Produkt – Stirling muss jede Menge unter einen Hut bringen. „Langweilig wird mir derzeit zumindest nicht“, lacht die Amerikanerin ins Telefon. Ihre Stimme ist hoch, hell, typisch amerikanisch. Der Großteil ihrer Aussagen auch. Da ist oft davon die Rede, wie „awesome“ alles gerade ist, wie unglaublich, wie traumhaft.

Dass hinter ihrem Aufstieg zur fiedelnden Dubstep-Prinzessin jede Menge Kalkül steckt, weiß sie zwar ganz genau. Allein, es passt nicht in ihr Bild des süßen Nerds, das sie hegt und pflegt. Bekannt geworden ist die gläubige Mormonin mit niedlich-trashigen Videoclips, in denen sie sich wild durch Fantasy-Szenarien à la „Der Herr der Ringe“ geigt, unterlegt mit mal rockigen, mal elektronischen und mal poppigen Elementen. Ihr You-Tube-Kanal „lindseystomp“ wurde bislang über 600 Millionen Mal aufgerufen.

Längst ist ihr zweites Album „Shatter Me“ erhältlich, beworben wird es im deutschen Fernsehen noch immer. „Anfangs war es fürchterlich ungewohnt, mein Gesicht in der Werbung zu sehen“, ist ihre Stimme aus dem sonnigen Kalifornien zu hören. „Doch so seltsam es ist, so aufregend ist es auch. Endlich kann ich meine Musik mit allen teilen. Schließlich war das seit vielen Jahren mein Traum – schon damals, als ich mit 16 in meiner ersten Rockband spielte.“

Ihre Musik, das sind vornehmlich irisch angehauchte Geigenmelodien, die bei aller kommerziellen Umsetzung technisch einwandfrei erklingen und Stirlings 20-jährige Erfahrung mit diesem Instrument verdeutlichen. „Wenn ich auf der Bühne Geige spiele, ist es beinahe so, als würde ich einen anderen Bewusstseinsstatus erlangen. Ich entdecke dann jedes Mal aufs Neue, was mir ein Stück bedeutet.“

Als Sechsjährige beschloss sie, Geigerin werden zu wollen. „Die Geige ist etwas ganz Besonderes. Nicht ohne Grund sagt man, sie sei der menschlichen Stimme von allen Instrumenten am nächsten.“ Von den Eltern eher zu klassischen Konzerten als zu Rock- oder Pop-Shows mitgenommen, waren Solo-Violinisten die ersten Rockstars, die Stirling zu Gesicht bekam. Dennoch stürzte sie sich nicht blauäugig in den Traum von der großen Karriere, hatte immer einen Plan B in der Hinterhand. „Ich wusste zwar, dass ich mich am liebsten auf der Bühne austoben würde, konzentrierte mich aber auch auf mein Studium. Was jetzt alles passiert, kann man sowieso nicht planen.“ Sinn und Verstand, so wird deutlich, hat Stirling nicht nach den ersten ausverkauften Shows aufgegeben. Geige spielen ist in ihrem ganz eigenen zuckersüßen Kosmos allerdings nur ein Teil des Ganzen. Sie ist an den Kostümen und der Umsetzung der Live-Show beteiligt, ist für die Video-Einspieler verantwortlich, behält gern die Fäden in der Hand. „Das liebe ich daran: die Abwechslung, die Tatsache, dass ich mich in allen Bereichen ausleben kann.“

Immerhin: Sie ist als Co-Autorin für die meisten ihrer Stücke mitverantwortlich. Vielleicht keine Selfmade-Künstlerin. Aber eine Frau, die weiß, was sie will, und sehr diszipliniert ist. „Bei all den Aufgaben darf ich das Üben natürlich nicht vergessen“, sagt sie. Vom Training ganz zu schweigen – aber das macht die Geigen-Fee ja bekanntlich gerne, während sie mit der Presse plaudert.

Dass ihre gelöste, humorvolle und auch ein wenig alberne Art ein Stück weit lediglich Fassade ist, wird spätestens beim Artwork und Titel ihres zweiten Albums „Shatter Me“ deutlich. Darauf ist sie im Innern einer Schneekugel zu sehen – gefangen, wie es scheint, in einem gläsernen Gefängnis. Die Parallele zu ihrem Alltag als Star weist sie jedoch von der Hand. „In gewisser Weise bin das ich, die verzweifelt versucht, das Bild der makellosen Perfektion aufrechtzuerhalten“, wird sie ungewohnt ernst. „Ich wollte unbedingt das sein, was meiner Meinung nach alle in mir sehen wollten, bis ich irgendwann zusammenbrach. ‚Shatter Me‘ handelt davon, wie ich mich danach von diesen angeblichen Vorstellungen befreite, wie ich lernte, mich selbst zu lieben. Allen Makeln zum Trotz.“

Stirling musste eine ganze Menge zerstören, um zu ihrem wahren Ich vorzudringen. Sie musste eine Essstörung überwinden, musste Depressionen und nagende Selbstzweifel überwinden. „Jetzt habe ich wieder eine Persönlichkeit“, meint sie abschließend – und schlüpft in ihren Videos doch am liebsten in andere Rollen zwischen Elfe, Prinzessin und dem Schwarm aller Nerds dieser Welt. Und das ist bei allem Kalkül irgendwie sympathisch. Ein klein wenig Eskapismus hat bekanntlich noch nie geschadet.