Entzückende Rücken: Die große Treppe im Museumsfoyer Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Schöne junge Menschen, viel nackte Haut, mehr oder (meist) weniger bedeckt von Unterwäsche, die alle herkömmlichen Vorstellungen von Höschen, Hemd und BH sprengt: Das Haus der Geschichte wurde zur Bühne für die 29 gewagten Kreationen.

Stuttgart - Was hätte Prinzessin Turandot im alten China unter ihrer Seidenrobe tragen können? Eine Art Panzerbody aus Dreiecken und Streben, der ihre Sehnsucht nach Liebe verschloss und fast erdrückte? Eine Kreation aus Fächerformen? Oder nur geflochtene Schnüre, die alles, auch das Innerste, offenbaren?

Für die Gestaltung von Unterwäsche der besonderen Art unter dem Titel „Experimentelles auf nackter Haut“ hatte Professor Thomas Pekny, Bühnen- und Kostümbildner, den Erstsemestern der Studiengänge Modedesign und Accessoire-Design an der Hochschule Pforzheim die Titelheldin der Oper von Giacomo Puccini als Inspiration vorgegeben.

„Man müsste es aber mal angezogen sehen“, sinnierten ein paar Damen vor den ungewöhnlichen Gebilden aus Rohnessel, Schnur, Peddigrohr und Draht, die im Haus der Geschichte zusammen mit der Ausstellung „Auf nackter Haut – Leib. Wäsche. Träume“ zu sehen sind. Hier die handfest-realistischen Beispiele für 150 Jahre Kulturgeschichte der Wäsche. Und daneben eine artifizielle Kollektion, die irritiert, fasziniert und ein bisschen ratlos macht. Unterwäsche, gewiss, aber in ihrer Ausformung und Erscheinung so rätselhaft wie die Prinzessin, die ihren Heiratskandidaten Rätsel aufgibt und sie grausam köpfen lässt, wenn sie scheitern. Ein uralter Märchen-Topos.

Wie steigt man hinein? Und wieder hinaus?

Die Rätsel, über die Professor Paula Lutum-Lenger, Kuratorin der Wäsche-Ausstellung, angesichts dieser Exponate laut nachdachte, sind eher praktischer Natur: „Wie zieht man das an? Wie steigt man hinein? Und wieder hinaus? Wie trägt man es? Und wie fühlt man sich darin?“

Jetzt wissen wir es. Denn Pekny ist ein Theatermann. Er inszenierte den hautnahen und bewegten Auftritt, damit die „skulpturalen Kunstwerke mit Galerie-Anspruch“ den Reiz ihrer besonderen Ästhetik entfalten können. Damit wurde das Museumsfoyer zur Bühne, die große Treppe zur Showtreppe, vor einem Publikum, das fast den Atem anhielt. Fasziniert, aber auch angerührt von einer besonderen Anmutung von Intimität.

Die technischen Rätsel sind nun gelöst: Alles kann angezogen werden. Die Frage nach Tauglichkeit, sprich: Tragbarkeit im wirklichen Leben, ist dagegen müßig. Selbst Madonna wird sich ihre Show-Korsagen weiterhin lieber von Jean-Paul Gaultier bauen lassen. „Konzeptionell und nicht dekorativ entwerfen, sich nicht vom Herkömmlichen und Angepassten leiten lassen, eine eigene Design- und Bildsprache entwickeln“, hieß die von Pekny ausgegebene Parole.

Eingetaucht ins alte China und der Prinzessin auf den Leib gerückt

Dafür sind die Studierenden tief eingetaucht ins alte China und der Prinzessin auf den Leib gerückt. Fast bis unter die Haut. Wie sie ihre Erkenntnisse umgesetzt haben, das ist ziemlich schräg, aber auch ziemlich beeindruckend, von überbordender Kreativität und handwerklicher Kunstfertigkeit. Mit Anleihen bei der Architektur und Verweisen auf Künstler wie Niki de Saint Phalle und ihre Nanas, Christo, Alberto Giacometti, Wassily Kandinsky oder auch Frida Kahlos Selbstporträt im Korsett, das ihren schwer verletzten Körper stützt.

Turandot hat viele Gesichter. Auch sie ist eine Verwundete. Gefangen in Panzern wie von Diana Hasenfus, dem Modell „Seelenstütze“ von Ella Shvets, der Kreation „Prigioniera“ (Die Gefangene) von Sabrina Jahn oder der Rüstung „Couche D’Armure“ von Sabrina Gotthold. Mein Gott, denkt man dabei und hat die Kostümgeschichte über die Jahrhunderte vor Augen: Was ist dem armen Frauenkörper schon alles angetan worden. So sieht das auch Anjana Berger. Im Text zu ihrer Kreation „Being caught by the pants of reality“ schreibt sie: „Die Weiblichkeit kann beengend sein, sie macht uns handlungsunfähig. Gebunden an Tradition und Unterdrückung sind wir versklavt, unser eigenes Gefängnis zu tragen.“ Glaubten wir nicht, das sei überwunden? Zumindest ist der Tragekomfort bei den heutigen „Panzern“, der Shape-Unterwäsche, höher.

Aber Turandot hat vielleicht auch eine geheime Lust auf Sexspiele mit Schnüren und Bandagen und erscheint in diesen textilarmen Kreationen hocherotisch. Dann öffnet sie sich endlich der Liebe zu Kalaf, den Alex Werth aufgetakelt mit dem Segel einer chinesischen Dschunke anrauschen lässt. Am schönsten zeigt diese Verwandlung Pia Tholen: Ihr Modell „Tausendeins“, eigentlich nur eine Spirale mit angedeutetem BH-Schalen aus dem zu Schnüren gebundenen Nesselstoff, soll nicht nur die zarte Seite der Turandot zeigen, sondern zitgiert auch die wellenförmig angelegten Reisplantagen. Kaum verhüllt es die sanften Rundungen von Laura Keller, die es mit lächelnder Unbefangenheit vorführt, so selbstverständlich und ungeniert wie alle anderen Models. Nun endlich die Frage: Wie fühlt man sich darin? „Gut“, versichert Laura Keller, „es trägt sich gut und ist bequem.“

Wie sagt Professor Pekny? „Wir wollen unangepasst, rebellisch, laut und wild sein. Dann kann es auch hübsch werden.“

Experimentelles auf nackter Haut: Im Haus der Geschichte, Konrad-Adenauer-Straße 16, bis zum 13. September zu sehen: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr, Montag geschlossen.