Dr. Stefan Junger tastet den Rücken von Schmerzpatientin Petra Sperber ab Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Im Krankenhaus Bad Cannstatt können Patienten mit chronischen Patienten seit Oktober 2014 stationär behandelt werden. Die Warteliste ist lang – denn Stuttgart ist in der Schmerztherapie unterversorgt.

Stuttgart - Petra Sperber liegt mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Seite. Ihr Arzt tastet vorsichtig ihre Hüfte ab. „Wärme könnte auch noch helfen. Lassen Sie sich eine Moorpackung geben“, sagt Dr. Stefan Junger, Leiter des Bereiches Schmerztherapie im Krankenhaus Bad Cannstatt, das zum Klinikum Stuttgart gehört. Seit Oktober 2014 können dort Patienten mit chronischen Schmerzen auch stationär aufgenommen werden. Sechs Plätze stehen in dem sogenannten Schmerzzentrum den Patienten zur Verfügung, bei denen die ambulante Therapie bisher keinen Erfolg gezeigt hat. „Bei unseren Patienten hat der Schmerz seine Warnfunktion verloren und wird selbst zur Krankheit“, erklärt Junger.

Petra Sperber leidet seit einem Motorradunfall vor einem halben Jahr an ständigen Schmerzen im Gesäß und unteren Rücken. Ein riesiger Bluterguss auf einer Körperhälfte sorgte dafür, dass sie sich kaum bewegen konnte und sich ihre Muskeln verhärteten. Der Aufenthalt in dem Schmerzzentrum gibt ihr endlich wieder Hoffnung. „Ich erwarte nicht, dass ich hier nach drei Wochen schmerzfrei hinaus spaziere“, sagt sie. Doch durch die Therapie will sie einen ersten Schritt in ein Leben machen, das nicht mehr ausschließlich vom Schmerz bestimmt wird. Nach der stationären Behandlung liegt aber noch ein weiter Weg vor ihr: „Ich werde die Therapie hier weiter ambulant machen. Es sieht danach aus, dass ich in ein bis zwei Jahren vielleicht wieder ohne Schmerzen leben kann.“

Ihr Ziel ist es, dass sie wieder ihre Arbeit als Vertriebsassistentin ausüben kann. Momentan ist daran noch nicht zu denken, denn Sitzen wird für sie schnell zur Qual, auf harten Oberflächen kann sie sich überhaupt nicht niederlassen. Schlafen ist nur mithilfe von Medikamenten möglich.

Wie Petra Sperber geht es in Deutschland laut aktueller Daten aus dem Jahr 2013 rund 7,5 Prozent der Bevölkerung. Am häufigsten handelt es sich um Rücken-, Kopf- und Weichteilschmerzen, aber auch spezielle Syndrome wie Phantomschmerzen. Nach Schätzungen leiden in Stuttgart etwa 17 000 Menschen unter chronischen, den Alltag beeinträchtigenden Schmerzen. Die Ursachen können ganz unterschiedlich sein. Manchmal gibt es sogar keine biologische Ursache. Viele Patienten haben bereits eine jahrelange Vorgeschichte und zahlreiche erfolglose und daher frustrierende Besuche bei Ärzten hinter sich.

Bis zu einem gewissen Grad können niedergelassene Ärzte Patienten mit akuten Schmerzen behandeln. Doch für die betroffenen Patienten mit chronischen Schmerzen gibt es in Stuttgart insgesamt nur acht Ärzte mit einer Zusatzausbildung in spezieller Schmerztherapie – nur vier von ihnen arbeiten als niedergelassene Ärzte, die anderen vier praktizieren in Krankenhäusern. „In diesem Bereich sind die Patienten in Stuttgart stark unterversorgt“, sagt Junger. Der Grund für die Unterversorgung gerade bei niedergelassenen Ärzten sei, dass chronische Schmerzpatienten viel Zeit beanspruchen. „Beim Erstkontakt muss sich der Arzt mindestens eine Stunde lang Zeit für Anamnese, Untersuchung und für die Erläuterung des Konzepts einplanen“, sagt Junger. Dieser Aufwand werde jedoch von den Krankenkassen nicht ausreichend vergütet; die niedergelassenen Ärzte können es sich deshalb aus wirtschaftlichen Gründen kaum leisten, sich auf Schmerztherapie zu spezialisieren.

„Der Vorteil unserer Therapie ist, dass alle Disziplinen miteinander den Patient behandeln und nicht parallel zueinander“, sagt Junger. Ein Team bestehend aus speziell qualifizierten Schmerztherapeuten, Orthopäden, Psychotherapeuten, Physio- und Ergotherapeuten und dem Pflegepersonal verschafft Patienten eine Linderung und bringt ihnen den richtigen Umgang mit den Schmerzen bei. „Oft haben Patienten Angst davor, sich zu bewegen und versuchen alles zu unterlassen, was den Schmerz verstärken könnte.“ Diese Patienten müsse man erst davon überzeugen, dass sie selbst aktiv – zum Beispiel durch Physiotherapie – ihre Beschwerden in den Griff kriegen müssen.

Einigen Patienten fällt dies schwer, besonders weil mit der Krankheit auch oft Depressionen und Ängste oder ein Medikamentenmissbrauch einhergehen. „Viele Patienten versuchen sich selbst mit Schmerzmitteln zu therapieren“, sagt Junger. Da sich der Körper jedoch an die Medikamente gewöhne, werde die Dosis immer weiter gesteigert, ohne dabei eine wirkliche Verbesserung zu erreichen. „Wir arbeiten zwar auch mit Medikamenten, aber nur, wenn die Schmerzen die weitere Therapie unmöglich machen würden“, sagt er.

Auch Petra Sperber bekommt Spritzen in die sogenannten muskulären Triggerpunkte gesetzt, damit sie an der Krankengymnastik teilnehmen kann. Dabei gehört sie eher zu den Patienten, die selbst aktiv werden möchten und sich nicht auf Medikamente verlassen wollen. Zwei Wochen ist sie nun schon im Krankenhaus Bad Cannstatt und hat kleine Fortschritte gemacht. Das Versprechen, dass alles wieder gut werden wird, wird sie von ihrem Arzt jedoch nicht hören. „Die meisten Patienten werden den Schmerz akzeptieren müssen“, sagt Junger. „Wir können ihnen aber den Umgang damit erleichtern.“