Daniel Krüger an der Schrifttafel für Russisch am Leibniz-Gymnasium Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Im Interview erklärt der Russisch-Lehrer Daniel Krüger, wie am Leibniz-Gymnasium in Feuerbach Russisch unterrichtet wird und was Land und Leute dort so liebenswert macht.

Stuttgart - Herr Krüger, ist es schwer, die russische Schrift zu lesen?
Wir laden einmal im Jahr Eltern und Schüler aus den Klassen 5, 6 und 7 zu einem dreistündigen Kurs ein. Am Ende können sie die Buchstaben erkennen und einen deutschen Text in russischen Buchstaben lesen. Kinder tun sich leichter damit als Erwachsene.
Wie entstand das russische Alphabet?
Slawisch war zunächst eine rein gesprochene Sprache. Man hat Gelehrte aus Konstantinopel eingeladen, die hießen Method und Kyrill. Sie kannten sich gut aus mit der christlich-orthodoxen Liturgie, übersetzten sie auf Wunsch der Mächtigen in das Slawische und schrieben sie auf. Hierzu erfanden sie angeblich das Schriftsystem für die slawische Sprache – daher der Name Kyrillisch. Heute weiß man jedoch, dass die von ihnen erfundenen Schriftzeichen nicht das heutige Kyrillisch waren, die Geschichte ist da komplizierter.
Alles andere geht wohl nicht so schnell?
Russisch hat eine ungeheure Formenvielfalt, vergleichbar mit Latein. Im Russischen gibt es sechs Kasus, männliche, weibliche, sächliche Substantive, verschiedene Deklinationen, aber die Sprache ist sehr logisch aufgebaut. Man fährt damit quasi wie auf Schienen, und, anders als bei Latein, lernt man eine lebendige Fremdsprache.
Ärgert Sie, dass viele nichts über das Land wissen und außer „Nastrovje“ nichts kennen?
Uns ärgert tatsächlich, dass die Stereotypen von Russland verfestigt sind und ein Gegengewicht fehlt. Wer das normale Leben in Russland kennt, dort Freunde hat, weiß, dass der Zusammenhalt in der Familie und im Freundeskreis sehr groß ist, die Menschen sehr gastfreundlich sind und in vielerlei Hinsicht genauso ticken wie bei uns.
Ärgern Sie sich über Putins Politik?
Mich stören etliche Dinge sehr: die Gesetze gegen Homosexuelle, die gelenkte Justiz, die weitgehend gleichgeschaltete Medienlandschaft. In den Metropolen Moskau und Petersburg ist trotzdem eine Mittelschicht herangewachsen, die sehr gebildet ist. Die will Freiheiten wie im Westen, ein funktionierendes Rechtssystem und ohne Maßregelungen ihren Beruf ausüben. Viele haben gegen Putins zweifelhafte Wiederwahl protestiert.
Das Russisch-Angebot am Leibniz-Gymnasium wurde vor 50 Jahren, mitten im Kalten Krieg, geschaffen. Wie erklären Sie sich das?
Russisch-Lehrer sind Brückenbauer. Das war auch mein Wunsch. Nach dem Zivildienst, nach den großen Demonstrationen der Friedensbewegung ging es mir darum, zwischen Ost und West zu vermitteln. Meine Begeisterung für die Literatur des Landes war sehr groß, und wie ich hatten viele der anderen Russischlehrer Interesse an diesem anderen Russland, an den Menschen, der Kultur. Sie wussten, es kann in der Zukunft nur Frieden geben, wenn man erkennt, was Russland für die Welt zu bieten hat.
Welchen Kontakt pflegt das Leibniz-Gymnasium?
Wir haben einen regen Austausch mit dem Gymnasium Nr. 4 in Samara, Stuttgarts Partnerstadt. Alle zwei Jahre besuchen unsere Russischschüler die Stadt, zwischendrin gibt es weitere Begegnungen. Einige unserer Lehrkräfte unterrichten dort für eine Woche ihre Fächer auf Deutsch.
Wie sind die Schüler untergebracht?
In Familien. Die Wohnungen sind in der Regel kleiner, die russischen Schüler teilen sich ein Zimmer mit ihrem Gast. Aber man lebt gut zusammen.
Welches Niveau sollen die Russisch-Schüler zum Schluss erreichen?
Sie sollen eine Tageszeitung lesen und verstehen und sich mündlich wie schriftlich zu Alltagsthemen äußern können.
Hat die aktuelle Krise in der Ukraine Auswirkungen auf die Anmeldezahlen?
Bisher nicht. Es kommen natürlich kritischere Äußerungen von Eltern. Wir hatten befürchtet, Probleme beim jüngsten Schüleraustausch zu bekommen, aber das ist nicht geschehen.
Wer wählt Russisch als Fremdsprache?
Von 600 Schülern wählen rund 55 bis 70 Kinder Russisch. Etwas weniger als die Hälfte kommt ohne Vorkenntnisse. Ein kleiner Teil gehört zu den Spätaussiedlern, die perfekt sind in Wort und Schrift, weil sie in Russland sozialisiert wurden. Inzwischen haben wir aber auch Kinder mit russischem Hintergrund, die oft nicht mehr Russisch schreiben und lesen gelernt haben oder zu Hause kaum noch Russisch sprechen.
Wie kann das sein?
Wenn die Kinder zum Beispiel in Mischehen aufwachsen, wo die Eltern in verschiedenen Sprachen mit den Kindern reden. Aber viele Eltern legen inzwischen wieder Wert darauf, dass sich die Kinder auch mit den Großeltern auf Russisch unterhalten können und ihre Herkunftskultur kennenlernen.
Welche Bedeutung hat das Russische heute?
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind enger geworden. Die Aussiedler und Migranten, die hier leben und Russisch sprechen, sind fast auf Augenhöhe mit der Zahl der türkischstämmigen Migranten. Baden-Württemberg hat intensive wirtschaftliche Kontakte mit Russland. Trotzdem hat man nicht mehr Russisch angeboten. Stattdessen wird an Gymnasien nach wie vor eine romanische Sprache nach der anderen gelernt. Man hat das moderne Europa offenbar noch nicht im Blick; der dynamischste Wirtschaftsraum liegt nicht in Westeuropa, sondern in den slawischen Ländern.

Am Donnerstag, 22. Januar, würdigt Kultusminister Andreas Stoch das Engagement der Schule. Der Festakt in der Festhalle Feuerbach, Kärntner Straße 48, beginnt um 9.30 Uhr.