Doping ist nicht nur unter Spitzensportlern weitverbreitet . Das Bild zeigt den mehrmalige Tour de France Gewinner Lance Armstrong nach einer Dopingkontrolle. Foto:  

Schwarze Schafe dopen auch im Breitensport. Der Stoff kommt vom Apotheker oder aus dem Internet.

Stuttgart - Aspirin, Ibuprofen oder Diclofenac nimmt er bei jedem Wettbewerb. Auch Kortison und Ephedrin hat er probiert; nur Stanozolol war ihm zu unheimlich. Das Anabolikum landete ungeöffnet im Müll. Doch jetzt hat Dirk andere Kaliber im Visier.

„Ich besorge mir Epo, die kleine Packung für 270 Euro“, erzählt er. Erythropoietin ist ein Medikament für Nieren- und Krebskranke. Man braucht dafür ein Rezept, sonst macht man sich strafbar. Doch der Reiz, den Dopingklassiker der Profis in die Hände zu bekommen, ist stärker. „Einmal die Tour-de-France-Nummer“, sagt Dirk. Nur einmal.

Dirk (Name von der Redaktion geändert) hat Familie, einen guten Job. Sooft es geht, läuft er seine Zwölf-Kilometer-Runde im Wald. Zwei- oder dreimal im Jahr macht der 47-Jährige Ernst und startet beim Halbmarathon. Mit einer Bestzeit von 1:44 Stunden für die 21 Kilometer liegt er im guten Mittelfeld. „Am geilsten ist es, wenn du Jüngeren zeigst, was Sache ist“, meint Dirk. Sein wahrer Gegner ist jedoch die Uhr: „Jede Sekunde zählt“, sagt er. Für sich, die Laufkumpels in der Firma. Deshalb dopt sich Dirk. „Tunen“ sagt er dazu. Wie beim Auto.

Verantwortungsvolle Ärzte geraten in die Zwickmühle

Die ersten Präparate hat er im Drogeriemarkt gekauft, harmloses Magnesium und Vitamintabletten. Die zweite Stufe sind Salben, Tabletten und Sprays aus der Apotheke – mal ohne, mal mit Rezept. Medikamentenmissbrauch ist für Laien die unkomplizierteste Art des Dopings. Als der Hausarzt sich querlegt, steigt Dirk auf Privatrezept um. „Wenn man selbst bezahlt, fragt kein Arzt oder Apotheker, wofür man das Asthmaspray braucht.“ Selbst verantwortungsvolle Ärzte geraten da in die Zwickmühle. „Wenn ich weiß, dass mein Patient sowieso dopt – ist es dann nicht besser, wenn er es wenigstens unter meiner fachlichen Aufsicht tut?“, schildert ein Arzt sein Dilemma.

Die dritte Stufe ist das Internet. Hier findet Dirk alles, was ihn vielleicht ein paar Sekunden schneller macht. Cash, ohne Rezept, ohne Fragen. Mehrere internationale Dopingplattformen sind derzeit online. Die Skrupellosigkeit der Dealer, die dubiose Herkunft und die fragwürdige Qualität der Medikamente blendet die Kundschaft aus. Nicht einmal die Abzocke stört. Das Epo, das Dirk bestellt hat, ist fast doppelt so teuer wie in der Apotheke. „Ich schade keinem, betrüge keinen, und es ist mein Geld“, sagt er. Außerdem machen es andere auch, da ist er sich sicher. „Wozu die Aufregung?“

Schmerzmittel sind nur die Spitze des Eisbergs

Dass nicht nur der Leistungs-, sondern auch der Breitensport ein Dopingproblem haben könnte, ist ein Tabu und dringt nur langsam ins öffentliche Bewusstsein. Neben Bodybuildern, deren Doping offensichtlich ist, rücken jetzt Freizeitsportler in Ausdauerdisziplinen wie Laufen, Radfahren oder Triathlon in den Fokus. In einer Studie zum Bonn-Marathon 2009 hatte sich erstmals das Ausmaß des Problems angedeutet: Von 1024 Teilnehmern haben 61,5 Prozent der Läufer vor dem Start Schmerzmittel eingenommen. Die Medikamente stehen nicht auf der Dopingliste; aus medizinischer Sicht ist die präventive Einnahme „sinnlos“ oder „falsch“. Kritische Mediziner nennen es trotzdem Doping: Wer den Schmerz, das körpereigene Warnsignal der Überlastung beim 42-Kilometer-Lauf, erst später oder gar nicht spürt, läuft leichter. Die Studie ist 2010 und 2011 in ähnlicher Form mit ähnlichen Ergebnissen wiederholt worden. Die Interpretation der Ergebnisse ist in Fachkreisen allerdings umstritten.

Sind die Schmerzmittel womöglich nur die Spitze des Eisbergs? Falls ja, wie groß ist der Brocken unter Wasser, der verborgen bleibt? Einer, der sich dazu intensiv Gedanken macht, ist Professor Heiko Striegel, Mediziner am Olympiastützpunkt Stuttgart und Mannschaftsarzt beim VfB. „Das Risiko, dass Freizeitsportler in großen Scharen zu klassischen Dopingmethoden greifen, halte ich für eher gering“, sagt Striegel. Allerdings gebe es in einigen Sportarten in unterschiedlicher Ausprägung die Gruppe der „superambitionierten Freizeitsportler“, die „alles optimieren“ wollten – vom Training und Equipment bis zum exklusiven Sportevent. „Es liegt nahe, dass solche Sportler auch den medizinischen Bereich optimieren wollen, und das öffnet die Türen zum Doping“, warnt Striegel.

Wettkämpfe für Feierabend-Athleten boomen

17 Millionen Deutsche treiben Laufsport; rund 280 000 starten bei mehreren Rennen im Jahr. Über 3000 sogenannte Volksläufe zwischen zehn und 42 Kilometer finden jährlich statt. Den populären Triathlon, ein Sport, der kaum unter zehn Wochenstunden Training zu bewältigen ist, trauen sich 200 000 Hobbysportler zu. Wettkämpfe für Feierabendathleten boomen. Kontrollen gibt es dabei so gut wie keine. Aussagen über die tatsächliche Dimension der Grauzone Doping sind daher schwierig. „Hier besteht Forschungsbedarf“, räumt Dieter Schneider, Präsidiumsmitglied im Württembergischen Leichtathletik-Verband (WLV), ein. „Der Einsatz unerlaubter oder missbräuchlich verwendeter Substanzen im Breitensport muss noch weiter aufgehellt werden“, sagt er.

Schneider, Präsident des Landeskriminalamts Baden-Württemberg (LKA), geht noch einen Schritt weiter. „Wir sollten im deutschen Sport ernsthaft darüber nachdenken, ob wir die Teilnehmer von Breitensport-Veranstaltungen künftig eine Art freiwilliger Selbstverpflichtung zum sauberen Sport unterzeichnen lassen“, sagt er unserer Zeitung: „Das hätte Signalcharakter.“ Von Dopingkontrollen im Breitensport hält der LKA-Chef nichts. Die 350 Euro pro Test sind es weniger. Der WLV, der auch den Stuttgart-Lauf mit dem Halbmarathon am Sonntag als Höhepunkt veranstaltet, befürchtet eher, dass Läufer die Tests als „organisiertes Misstrauen“ missverstehen könnten.

Eine ungefähre Vorstellung vom Ausmaß der Manipulation vermitteln Fahndungsergebnisse des Zolls. 2005 haben die Beamten deutschlandweit 530 000 Tabletten illegal eingeführter Arzneimittel beschlagnahmt. 2010 ist es fast die zehnfache Menge. Als im September 2011 bei der Operation Pangea 80 Staaten eine Woche lang die internationale Post durchleuchten, ziehen deutsche Zöllner 1132 Sendungen mit 53 500 Tabletten und Ampullen aus dem Verkehr. 80 Prozent sind Potenzmittel, 20 Prozent Doping-, Schmerz- und Diätmittel.

Auch im Internet sind Dopingsubstanzen verfügbar

Nicht nur Konsumenten werden gefasst, auch Dealer. Im März 2012 landet das Zollfahndungsamt Stuttgart mit griechischen Kollegen den bislang schwersten Schlag gegen die Szene: Ein 43-jähriger Grieche, geboren in Stuttgart, soll seit zehn Jahren Pillen und Ampullen für mehrere Hunderttausend Euro illegal vertrieben haben. „Medikamente und Grundstoffe bezog er hauptsächlich aus China, Russland und Thailand“, sagt Sabine Kukral, Pressesprecherin beim Zollfahndungsamt. Wenn der Stoff erst hierzulande in geheimen Labors gemixt wird, ist der Gewinn besonders hoch: Ein Kilogramm Hormonpulver kostet in China laut Zoll 163 Euro; das daraus gewonnene Anabolikum bringt in Deutschland 10 000 Euro. „Die Gewinnspanne reicht an den Rauschgifthandel heran“, sagt Kukral.

Die einfache Verfügbarkeit von Dopingsubstanzen im Internet ist bedrohlich für den Breitensport. Doch an erster Stelle steht der Täter. „Sowohl die Sportart als auch der Sportler sind anfällig für Doping“, sagt Striegel. Er will die Betrüger mit dem Argument nicht entlasten, doch auch die „gesellschaftliche Doppelmoral“ spiele eine Rolle: „Einerseits wollen alle einen dopingfreien Leistungssport. Andererseits hassen wir selbst im Freizeitsport Niederlagen und lieben die Sieger.“ Weil so viel – oder zu viel – auf dem Spiel steht, werde es „stets Menschen geben, die Grenzen der Legalität und des sozialen Agreements vom sauberen Sport überschreiten“, meint Striegel. „Man kann das als eine Art moralischer Verrohung bezeichnen.“

Freizeitathleten geben jährlich Millionen für Sportnahrung aus

Was ist noch gesunder Ehrgeiz, ohne den Sport nicht geht? Und wo beginnt die Pervertierung? Sportfunktionäre, Ärzte und Krankenkassen propagieren einen fairen, sozialen, gesundheitserhaltenden und spaßorientierten Sport. Die Hälfte der Deutschen ist von dieser Idee begeistert und selbst aktiv. Darum ist Sport auch ein Riesengeschäft: 78 Milliarden Euro geben die Deutschen pro Jahr für ihre Sportaktivitäten aus; davon fließen 20 Milliarden Euro in Sportgeräte, Sportschuhe, Sportkleidung. Um dieses Geschäft am Laufen zu halten, wendet die Industrie jährlich eine Milliarde Euro für Werbung aus. Die Botschaft ist immer die gleiche: Kauf mich – und werde noch stärker, noch schneller, noch besser. Auch die zahlreichen Fachzeitschriften für Läufer, Radfahrer oder Triathleten haben auf den ersten Blick nur ein Mantra: Leistung, Leistung, Leistung.

Um das Tempo in diesem Hamsterrad mitzuhalten, geben die Freizeitathleten jährlich 160 Millionen Euro für Sportnahrung aus. Die Pille aus der Werbung mit „essenziellen Vitalstoffen“, die Ampulle mit der „orthomolekularen Mikronährstoffkombination“ oder der Drink „Professional Vita Turbo“ soll das Quäntchen mehr bringen. Im Internet gibt es weitere Mittelchen und Tipps für sogenanntes legales Doping.

Beipackzettel warnt vor lebensbedrohlichen Komplikationen

„Viele Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamine, Mineralien oder Aminosäuren sind für die Belastungen im Freizeitsport bei normaler Ernährung eigentlich unnötig“, sagt Striegel. „Trotzdem nehmen viele Freizeitsportler diese Pillen. Das kann unschädlich sein – es kann aber auch der First Step, also der erste Schritt, sein.“

Es gab eine Zeit, da konnte man mit Dirk über solche Dinge reden. Heute ist er in Bereiche vorgestoßen, die von Misstrauen und Scham bestimmt werden. Die Sache mit dem Epo ist top secret: „Ich weiß doch, dass alle gleich scheiß Doping rufen.“

Einige Tage später hält er die Medikamentenschachtel in der Hand. Auf dem Beipackzettel steht explizit, dass ein Dopingmissbrauch „lebensbedrohliche Komplikationen im Herz-Kreislauf-System“ auslösen kann. Dirk hat den Zettel aufmerksam gelesen.