Nach zähem Ringen haben sich Merkel und Seehofer doch noch geeinigt. Foto: AFP

Das gab es noch nie: CDU und CSU, die trotz hoher Verluste weiter stärkste Kraft im Bundestag sind, mussten erst klären, ob sie gemeinsam regieren können. Nach dem Obergrenzenkompromiss treten sie nun die Reise nach Jamaika an.

Berlin - Zwei Jahre haben sie in dieser Frage nicht zueinander gefunden, zwei Wochen nach der für die Union so enttäuschenden Bundestagswahl haben sie nun eine gemeinsame Position in der Flüchtlingspolitik vereinbart. „Alles hat seine Zeit“, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag bei einem Auftritt mit CSU-Chef Horst Seehofer im Konrad-Adenauer-Haus: „Wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht.“ Die Einigung, die den Weg frei gibt für Sondierungsgespräche mit den Grünen und der FDP, wirft aber noch Fragen auf.

Haben Merkel und Seehofer ihre Einigung einig präsentiert? Die Gefahr, dass die in stundenlangen Verhandlungen am Sonntag gefundene Einigung schon am Montag unterschiedlich interpretiert werden könnte, war dem bayerischen Ministerpräsidenten durchaus bewusst. „Es gilt das geschriebene Wort“, sagte er deshalb vorsorglich und zitierte wie auch Merkel immer wieder direkt aus dem zweiseitigen „Regelwerk zur Migration“, das am Vorabend so verabschiedet worden war. „Ich stimme zu“, sagte er erst einmal nur, als Merkel die Kernpunkte erläuterte und von einem „klassischen Kompromiss“ sprach.

Wie funktioniert der neue Richtwert als Ersatz für die Obergrenze? Die Union will „erreichen, dass die Gesamtzahl der Aufnahmen aus humanitären Gründen“ 200 000 nicht überschreitet. Hineingerechnet werden dabei alle Arten von Schutzgründen wie das klassische Asyl, Bürgerkriegsflüchtlinge nach der Genfer Konvention, aber auch nachziehende Familienmitglieder, nach EU-Verteilungsschlüssel oder über internationale Umsiedlungsprogramme Aufgenommene sowie die subsidiär Geschützten, denen im Heimatland Folter oder die Todesstrafe drohen. Wird der Richtwert trotz aller „konkreten Maßnahmen“ und „wider Erwarten durch internationale oder nationale Entwicklungen“ nicht eingehalten, soll ein Automatismus greifen: Bundesregierung und Bundestag würden sich nach dem Willen der Union verpflichten, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und „geeignete Anpassungen des Ziels“ vorzunehmen.

Wer hat in welchen Punkten nachgegeben, wer sich wo durchgesetzt? Als größten Fortschritt hat es Seehofer bezeichnet, dass künftig der Bundestag über eine Reaktion auf eine dramatisch veränderte Migrationslage entscheiden würde. Dahinter steckt eine kaum verhohlene Einhegung der Kanzlerin, die Anfang September 2015 im kleinen Kreis darüber befunden hatte, dass die deutsche Grenze trotz der aus Ungarn über Österreich kommenden Flüchtlinge nicht geschlossen wurde. Zugleich musste der Bayer einsehen, dass das Grundgesetz und die Genfer Flüchtlingskonvention nicht außer Kraft gesetzt werden können und es, wie Merkel formulierte, „in den Grundrechten keine Obergrenze gibt“. Besonders wichtig war, dass dem Bemühen um eine weitere Begrenzung der Zuwanderung ein Satz aus dem CSU-Wahlprogramm hinzugefügt worden ist: „Das garantieren wir.“

Wie stellt sich die Union die neuen Asylzentren in Deutschland vor? Zu den strittigsten Ergebnissen, die die lange Nacht der Union hervorgebracht hat, gehört die Einrichtung von „Entscheidungs- und Rückführungszentren“. Die Idee basiert auf „Transitzentren“, die der Union schon lange vorschweben. Statt sie, wie ursprünglich gedacht, in Grenznähe einzurichten, womit die CSU die Möglichkeit einer direkten Zurückweisung verbunden hatte, sollen sie nach dem Vorbild der Einrichtungen in Bamberg, Manching und Heidelberg in Absprache mit Ländern und Kommunen über die Republik verteilt werden. Die Kritik entzündet sich vor allem daran, dass die Asylbewerber bis zur Entscheidung über ihren Antrag in der Einrichtung bleiben sollen. Von einer „Kasernierung von Schutzsuchenden“ sprach am Montag die Flüchtlingsschutzorganisation Pro Asyl: „Die jahrelange Verwahrung von Asylbewerbern in Sammellagern wird sich fatal auf die Integration der Betroffenen auswirken.“ Seehofer dagegen betonte, man habe in Bayern auf diese Weise die Bearbeitung der Anträge deutlich beschleunigen können.

Wie reagiert die Partei auf die so lange vermisste Einigkeit? Auf das Binnenklima in der CDU hat der Kompromiss entspannende Wirkung. Dass der Dauerzwist bis auf Weiteres beigelegt ist und Seehofer die Frage bejaht hat, ob man sich wieder lieb habe, wird allgemein mit Erleichterung aufgenommen. Nun richtet sich der Blick auf die Koalitionsverhandlungen. Der CDU-Innenexperte Armin Schuster etwa findet das nun vereinbarte Konzept „Jamaika-tauglich“. „Bestechend“ gar findet er die Idee, dass der Bundestag bei einer möglichen Veränderung der Zielgröße entscheiden soll. Schuster hofft, dass die Grünen nicht auf stur schalten. „Deren Unterhändler sollten merken, dass ihre Partei bis tief ins bürgerliche Lager hinein Stimmen gewinnen konnte.“ Als „Akt der Vernunft“ bezeichnet Thomas Bareiß, Bundestagsabgeordneter und CDU-Bezirkschef in Württemberg-Hohenzollern, den Konsens. Die „jetzt beschlossene Obergrenze von 200 000“ sei „sinnvoll“ – auch dass der Familiennachzug bei subsidiär Schutzbedürftigen ausgesetzt bleiben soll. Wolfgang Bosbach, zuletzt einer der exponiertesten Vertreter des konservativen Parteiflügels, findet ebenfalls lobende Worte. „Es gibt keinen Sieger, und es gibt keinen Verlierer. Es sei denn, man sagt, die Union insgesamt hat gewonnen“. Nun sei endlich „das Gezerre vorbei“.

Wie verhandlungsbereit ist die Union bei den Flüchtlingsthemen? Horst Seehofer ist dafür bekannt, wie er am Montag einräumte, öffentlich Bedingungen zu stellen. Nach dem Unionstreffen und vor den nun beginnenden Sondierungsgesprächen hat er das ausdrücklich vermieden: „Jetzt ist nicht die Zeit, um rote Linie zu ziehen, jetzt ist die Zeit, ergebnisorientiert zu reden.“ Beide Parteichefs erkennen damit an, dass keiner ihrer Kompromisspunkte in Stein gemeißelt ist. Merkel sagte, die Vorstellungen zur Migrationspolitik würden wie die Unionspläne zur Digitalisierung, Haushaltskontrolle oder Steuersenkungen in die Sondierungsgespräche mit FDP und Grünen eingebracht.

Wie geht es jetzt weiter? Am Mittwoch nach der Niedersachsenwahl, also am 18. Oktober, wird die 18-köpfige Unionsdelegation zuerst das Sondierungsteam der Liberalen und dann das der Grünen treffen. Am Freitag darauf, wenn Merkel vom EU-Gipfel in Brüssel zurückgekehrt ist, soll es erstmals ein Treffen aller möglichen neuen Regierungspartner geben.