Markus Kreßler (rechts) und sein Team wollen Flüchtlingen ein Online-Studium ermöglichen. Foto: dpa

Wer als Flüchtling an die Uni will, muss viele Hürden überwinden. Um den Weg zu erleichtern, haben junge Leute in Berlin eine Online-Uni gegründet. Zum 15. Oktober haben 1500 Flüchtlinge dort ihr Studium begonnen. Doch ein halbes Jahr nach dem Start sind viele Studenten abgesprungen.

Berlin - Alaa Abo Aoun weiß, was er will. Nur aussprechen kann er es noch nicht. „Imtritutionsbeschein.“ Fast. „Immatrulikabescheinigung?“ Beim dritten Anlauf, an einem sonnigen Frühlingsabend in einer Bar hoch oben über den Dächern Berlins, klappt es: „Immatrikulationsbescheinigung.“ Es ist kein einfaches Wort. Aber noch schwieriger ist der Weg dorthin, zumindest für Alaa Abo Aoun und viele andere Flüchtlinge in Deutschland.

Weil ihm für einen Studienplatz an einer regulären Uni noch die Sprachkenntnisse fehlten, hat Alaa Abo Aoun sich im Oktober 2015 bei einem Bildungsprojekt namens Kiron beworben und dort einen Platz für ein Onlinestudium bekommen – zusammen mit rund 1200 weiteren Flüchtlingen. Doch rund ein halbes Jahr nach dem Start hat Aoun noch keinen der Onlinekurse beendet. Damit ist er nicht allein.

Rund die Hälfte der Studenten nicht aktiv

Etwa die Hälfte der 1200 Studenten, die sich im Oktober angemeldet haben, sei derzeit nicht auf der Onlineplattform aktiv, sagt Katharina Dermühl, die bei Kiron das Marketing leitet. Wenn das Projekt im Mai rund 1000 neue Flüchtlinge aufnimmt, soll deshalb manches anders laufen als bei der ersten Kohorte, die im Oktober startete. Zum Beispiel sollen ein Sprachtest und ein Motivationsschreiben bei der Aufnahmeprozedur hinzukommen. Im letzten Oktober mussten Bewerber nur ihre persönlichen Daten eingeben und einen Nachweis über ihren Status als Asylbewerber einreichen.

Die ernüchternde Zwischenbilanz spiegelt wider, was generell bei akademischen Onlinekursen beobachtet wird: Die Quote derer, die die Kurse abschließen, ist gering. Bei einer Untersuchung von 29 Onlinekursen kam etwa eine Forscherin der britischen „Open University“ 2013 zu dem Schluss, dass nur rund sieben Prozent der Studenten ihren Kurs beendeten. Warum setzt das Kiron-Projekt dennoch auf diese Art des Studierens?

Die größte Hürde auf dem Weg an die Uni: die Sprache

Die Gründer von „Kiron Higher Open Education“ – also „Kiron Hochschulbildung“ – heißen Markus Kreßler und Vincent Zimmer. Das Projekt soll Flüchtlingen helfen, die oft monate- oder jahrelangen Wartezeiten bis zum Studienbeginn an einer regulären Uni sinnvoll zu nutzen. Denn auf dem Weg in den Hörsaal begegnen Flüchtlinge zahlreichen Hürden. Die größte davon ist die Sprache. Sprachlehrer schätzen, dass es mindestens ein Jahr dauert, bis Menschen ohne Vorkenntnisse Deutsch auf Uni-Level erreichen – vorausgesetzt, der Unterricht erfolgt aus einem Guss und ist an die Voraussetzungen der Schüler angepasst.

Die Realität sieht derzeit anders aus: Die vom Bund geförderten Integrationskurse sollen Flüchtlinge bis zu einem sprachlichen Grundlevel – in der Fachsprache heißt es B1 – führen. Wer für die Uni noch weiter lernen will, muss sich in einem Flickenteppich aus verschiedenen Kursen und Finanzierungsmöglichkeiten zurechtfinden. Eine flächendeckende Lösung fehle, kritisiert etwa die Stuttgarter Sprachlehrerin Simone Henke.

Hinzu kommen weitere Schwierigkeiten, die für Flüchtlinge den Weg an die Uni zu einem Spießrutenlauf machen. Oft fehlen Zeugnisse; Geflüchtete müssen Prüfungen nachholen oder können sich ein Studium schlicht nicht leisten. Denn Anspruch auf Bafög haben Asylbewerber erst, wenn über ihren Asylantrag entschieden wurde. Doch das kann monate- oder gar jahrelang dauern. So sind Flüchtlinge, die in Deutschland studieren wollen, oft zu langem Warten verdammt.

Zwei Jahre Online-Studium, ein Jahr Uni

Das wollen die Macher von Kiron ändern. Die Idee hinter dem Projekt: In den ersten zwei Jahren belegen Studenten Onlinekurse auf Englisch. Solche Kurse – sogenannte Moocs – werden seit einigen Jahren vorwiegend von Universitäten in den USA, aber auch immer mehr europäischen Unis angeboten. Im dritten Jahr wechseln Kiron-Studenten an eine gewöhnliche Uni, die mit Kiron eine Partnerschaft eingegangen ist. Wer einen entsprechenden Katalog von Online-kursen abgearbeitet hat, kann an der Partner-Uni im dritten Jahr einen regulären Bachelor-Abschluss machen. In der Zwischenzeit soll den Flüchtlingen so Zeit bleiben, um Deutsch zu lernen und, falls nötig, die Abiturprüfung nachzuholen. Auch im Südwesten hat Kiron eine Partner-Institution: Die Hochschule Heilbronn möchte Studenten im dritten Jahr aufnehmen.

Ein ausgeklügeltes Konzept – doch ein halbes Jahr nach dem Start zeigt sich: Viele Studenten bleiben nicht am Ball. Woran liegt das? „Ich habe das System am Anfang nicht richtig verstanden“, sagt etwa Alaa Abo Aoun. Heute, ein halbes Jahr nach der Anmeldung, weiß er: Kiron bietet bislang nur Bachelor-Abschlüsse an. Aber einen Bachelor hat Aoun schon – in Informatik, aus Syrien. Als er 2014 floh, stand er kurz vor dem Masterabschluss. Den will er nun in Deutschland machen. Der 27-Jährige hofft, im Herbst einen Studienplatz an einer regulären Uni zu bekommen. Dafür paukt er in jeder freien Minute Deutsch – ein weiterer Grund, warum er seine Kurse bei Kiron auf Eis gelegt hat. „Die Kurse gibt es nur auf Englisch“, sagt Aoun, „aber ich will so schnell wie möglich Deutsch lernen.“

Ähnlich geht es auch Muhammad Al-Zeen. Der 25-Jährige hat in seiner Heimat Syrien Englisch studiert. Sein Traum: Eines Tages will Muhammad Al-Zeen in Deutschland als Englischlehrer an einer Schule arbeiten. „Ich finde nach wie vor, dass die Kiron-Uni eine tolle Idee ist“, sagt Al-Zeen. „Aber für mich ist es nicht mehr interessant, weil sie keine Lehramtsstudiengänge anbieten.“

Kiron will Aufnahmeverfahren ändern

Aus solchen Erfahrungen will das Team des Kiron-Projekts lernen. Nach einem „Sommer der Euphorie“ 2015 arbeiteten jetzt viele Organisationen, die sich jüngst zur Integration von Flüchtlingen gegründet hätten, „an dem Schritt zur Professionalisierung“, sagt die Kiron-Marketingchefin Katharina Dermühl. Neben Sprachtest und Motivationsschreiben soll bei der Aufnahme von neuen Studenten im Mai auch ein Probe-Onlinekurs Pflicht werden. „Nach der Anmeldung sollen die Studenten dafür zwei Monate Zeit haben“, erklärt Katharina Dermühl vom Kiron-Team. Schließt jemand den Probekurs in dieser Zeit nicht ab und gibt keine Rückmeldung, warum, soll der Platz für andere Bewerber frei werden. Außerdem „müssen wir viel mehr offline machen“, sagt Dermühl. Dafür wurden etwa Regionalgruppen geschaffen – die größten in Berlin, München, Lüneburg und Aachen –, damit die geflüchteten Studenten auch über die Onlinekurse hinaus Anlaufstellen in ihrer Nähe haben.

Finanziert ist das Projekt laut Dermühl bis Ende 2016. Zu den Förderern gehört neben der Google-Stiftung, die 300 000 Euro gegeben hat, auch ein Geldgeber aus dem Südwesten: Die Schöpflin-Stiftung aus Lörrach fördert Kiron mit 1,5 Millionen Euro über die nächsten drei Jahre. Damit soll das Überleben des Projekts gesichert werden. Bis Ende 2016 sollten insgesamt 5000 weitere Studenten den Zugang zum Onlinestudium erhalten, sagt Katharina Dermühl.

In Berlin ist die Sonne an diesem Abend hinter den Dächern versunken. Alaa Abo Aoun macht sich auf den Heimweg. In einem Zimmer, das vom Jobcenter finanziert wird, wohnt Aoun neuerdings mit einem Kettenraucher zusammen, wie er sagt. „Ich kann nicht mehr schlafen“, denn der Mitbewohner rauche überall. Aoun lernt trotzdem weiter jeden Tag Deutsch, auch wenn er oft müde ist. Bald will er die C1-Deutschprüfung ablegen – an vielen Unis Voraussetzung für eine vorläufige Zulassung. Später müsste er dann noch eine zweite Prüfung ablegen. Bis zum Studienstart ist der Weg also immer noch lang. Immerhin eine Schwierigkeit hat Aoun heute aus dem Weg geräumt. Was er im Herbst in den Händen halten will, kann der junge Mann jetzt aussprechen: eine Immatrikulationsbescheinigung.

Info: Flüchtlinge studieren im Netz

Das Konzept von Kiron: Flüchtlinge studieren zunächst im Internet mit Onlinekursen, sogenannten Moocs. Nach zwei Jahren wechseln sie an eine gewöhnliche Uni. So sollen lange Wartezeiten – etwa, bis Flüchtlinge ausreichend Deutsch können – überbrückt werden.

Moocs werden vorwiegend von zahlreichen Universitäten weltweit auf Plattformen im Netz wie Coursera, Udacity oder edX angeboten.

Laut Befürwortern könnten Moocs die Kosten für ein Studium enorm senken. Aber sie erfordern auch viel Eigenmotivation. Kritiker verweisen auf die geringen Abschlussquoten.

Geht das Konzept der Kiron-Uni auf? Unsere Autorin begleitet drei Studenten durch ihr erstes Studienjahr. Das Rechercheprojekt wird von der Deutschen Telekomstiftung gefördert.