Jochen Wier findet das Leben gut - trotz seiner schweren Verletzungen. Foto: Lichtgut/Verena Ecker

Jochen Wier wird auf dem Dach einer S-Bahn gefunden, mit schwersten Verbrennungen. Was in jener Nacht unter dem Einfluss von K.-o-Tropfen mit ihm geschah, weiß er bis heute nicht.

Stuttgart - Jochen Wier wurde am 16. Mai 2010 mit lebensgefährlichen Verbrennungen auf dem Dach einer S-Bahn in Sindelfingen Goldberg gefunden. Viele Fragen drängen sich auf: „Wie ist das passiert?“ „Wer war das?“ oder „Warum?“, fragen alle, wenn sie Jochen Wiers Geschichte zum ersten Mal hören. Er weiß es nicht. Und er selbst stellt diese Fragen nicht. Bei den Operationen, mit denen die Ärzte ihn retteten, verlor er den linken Arm und beide Füße, die oberhalb des Sprunggelenks amputiert wurden. Die Unterschenkel retteten die Mediziner mit Muskeltransplantationen. So kann der 25-Jährige mit Prothesen gehen, selbst ohne kann er sich auf den Stümpfen fortbewegen. „Ich habe es überlebt, obwohl 37 Prozent meines Körpers verbrannt waren. Das ist toll, sogar die Ärzte haben gestaunt“, erzählt der junge Mann. Keine Spur von Gram, Missmut oder Traurigkeit. Irgendwie hat der Neustart mit erschwerten Bedingungen das Leben für ihn bewusster und unbeschwerter zugleich gemacht. „Als ich aus dem Koma aufwachte, war ich glücklich und fröhlich, weil ich lebe. Das war das erste Gefühl. Erst an zweiter Stelle standen die Unsicherheit und die Frage, wie es nun weitergehen würde“, sagt er. Diese Einstellung ist geblieben.

Die K.-o.-Tropfen sind im Blut noch nachweisbar

Nur Bruchstücke weiß der 25-Jährige, der damals in Weil im Schönbuch lebte, über jene Nacht. Er war mit einer Clique von zehn Kumpels in einer Bar in Bad Cannstatt. Ein paar Biere seien da geflossen. Der Bluttest später habe ergeben, dass er nicht stark angetrunken gewesen sei bei dem Unfall. Gegen Mitternacht, so habe es die Polizei damals rekonstruieren können, muss ihm jemand K.-o.-Tropfen ins Getränk gegeben haben. Wie er das Lokal verließ, ob er zum nahegelegenen Bahnhof ging, ob er alleine war, ob ihn jemand auf das Bahndach hievte oder zum Mitklettern animierte unter dem Einfluss der Droge: all das weiß Jochen Wier nicht. Die Kumpels hätten sich wohl über sein Verschwinden gewundert, als er nicht ans Handy ging, aber gemutmaßt, er sei wohl eilig zur Bahn aufgebrochen, um doch heimzufahren, anstatt wie geplant bei einem Freund in Stuttgart zu übernachten.

Irgendwo bei Vaihingen sahen Zeugen dann, dass da ein Mensch auf dem Dach lag. Bei Vaihingen wurde er entdeckt. Im Wald zwischen Vaihingen und Böblingen sahen weitere Zeugen einen Blitz auf dem Dach der Bahn. Es entstand ein sogenannter Lichtbogen, bei dem ein Stromstoß auf den Menschen übersprang, der da lag, weil er der Stromleitung mit vielen Tausend Volt Spannung darauf zu nahe gekommen sein muss.

Bei all den Widrigkeiten, die das Schicksal in jener Nacht brachte, hatte der damals 18-Jährige auch Glück. „Ich wurde schnell gefunden, das half in mehrfacher Hinsicht“, berichtet er. Zum einen konnte er so überhaupt gerettet werden. „Hätte ich ein paar Stunden mit den schweren Verletzungen irgendwo gelegen, hätten die Ärzte vielleicht nichts mehr tun können“, sagt er. Zum anderen konnte so bewiesen werden, dass er nicht viel getrunken hatte und – noch wichtiger - nur ein einziges Mal die Droge geschluckt hatte. Das unterstütze die Theorie, dass ihm jemand den Stoff ins Getränk gekippt haben muss. Opfer der K.o.-Tropfen verlieren das Bewusstsein und haben Gedächtnislücken.

Im künstlichen Koma bekommt er mit, wie die Ärzte amputieren

Mehrere Tage lag Jochen Wier im künstlichen Koma, während die Ärzte um ihn kämpften. „Man kriegt da aber alles mit“, erzählt er. Und als wäre es das Normalste auf der Welt, schildert er, wie sich eine Knochensäge anfühlt, wenn der Arm abgetrennt wird: „Das ist das gleiche blöde Gefühl wie eine Wurzelbehandlung, dieses Schaben am Knochen – nur ohne Betäubung“, sagt er.

Da er ja keine Ahnung hatte, wie ihm geschah, sei in seinem Kopf „ein sehr gruseliger Film“ abgelaufen: „Ich dachte, ich sei entführt worden, und irgendwelche Forscher machen brutale Experimente mit meinem Körper“, erzählt Wier. Zu dieser Paranoia habe noch der Umstand beigetragen, dass wegen der Infektionsgefahr seine Familie hinter einer Scheibe bleiben musste.

Nach vier Tagen im Koma ließen die Ärzte ihn aufwachen, und von da an kannte der junge Mann zur Verwunderung vieler nur eine Blickrichtung: nach vorne. „Das erste, wonach ich die Ärzte gefragt habe, waren ein Stift und Papier. Schließlich war ich Linkshänder, und sie haben meinen linken Arm abgenommen“, sagt Wier – und lacht herzlich über diese zusätzliche Gemeinheit des Schicksals. Er habe schnellstmöglich wissen wollen, was mit dem rechten Arm noch geht.

Es ging viel. Trotz erster Rückschläge aufgrund einer anfangs nicht gerade optimalen medizinischen Versorgung habe er nach einem Jahr seine Abschlussprüfung als Konditor gemacht. Auf Dauer war das aber nichts, darum ging er nach Heidelberg, machte eine Ausbildung als Mediendesigner. Einen Job fand er nicht. Im dritten Anlauf ist Jochen Wier nun Kaufmann für Büromanagement geworden – nun passt alles.

Über all diese Stationen nach dem Unfall hinweg hat sich das Leben verändert. „Aber es ist viel, viel besser geworden“, sagt Jochen Wier zur Verwunderung vieler. Schwierige Phasen hatte er. Zunächst musste der junge Mann damit fertig werden, dass manche ihn für sein Unglück selbst verantwortlich machten. Er sei ja S-Bahn-Surfer gewesen und habe das Schicksal herausgefordert. „Das hätte ich nie gemacht. Ich musste im Internet nachschauen, was das ist – das ist doch völlig krank“, sagt er über die lebensgefährliche Jugendbeschäftigung.

Der Blick nach vorne ist auf Olympia gerichtet. Wier trainiert schon jetzt wie ein Leistungssportler, unter anderem Sitzvolleyball. Als nächstes will er sich dem Laufsport widmen. „Morgen ist das erste Treffen mit der Gruppe, da stehen nur zwölf Kilometer auf dem Programm.“ Damit nicht genug, nebenbei läuft noch eine Trainerausbildung. „Ich habe viel über bewussteres Leben und Verantwortungsbewusstsein nachgedacht. Das will ich weitergeben“, sagt Jochen Wier.