Behinderte und nicht behinderte Kinder sollen möglichst gemeinsam lernen. Doch viele Lehrer sehen sich durch diese Aufgabe überfordert. Foto: dpa

Unter Lehrern ist die Akzeptanz des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Schülern innerhalb eines Jahres um 15 Prozent gesunken. Es fehlt an sonderpädagogischen Fachleuten.

Stuttgart - Nur jeder zweite Lehrer in Baden-Württemberg steht hinter der Inklusion, dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern an Regelschulen. In einer vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage bezeichneten nur 51 Prozent von 500 befragten Lehrern den gemeinsamen Unterricht als grundsätzlich sinnvoll. Innerhalb eines Jahres ist die Akzeptanz zu einem der bildungspolitischen Großprojekte im Land damit um 15 Prozent zurückgegangen. In der Umfrage des VBE im Jahr 2015 hatten noch 66 Prozent der Lehrer die Inklusion positiv bewertet.

Die Lehrer aller Schularten sehen sich den Herausforderungen des inklusiven Unterrichts nicht gewachsen. Sie klagen über unzureichende Aus- und Fortbildung. In erster Linie vermissen sie das Fachpersonal. Im Koalitionsvertrag streben Grüne und CDU an, dass in Inklusionsklassen das Zwei-Pädagogen-Prinzip gelten solle. Auch der VBE-Vorsitzende Gerhard Brand macht sich dafür stark, dass permanent ein Sonderpädagoge und ein Lehrer der Regelschulart in Inklusionsklassen unterrichten sollten. Dafür sind laut Brand für die 4100 Schulen des Landes 4700 Stellen notwendig.

Lehrer mit Inklusion-Erfahren sehen die Aufgabe positiver als Lehrer ohne Erfahrung

Doch es fehlt an Sonderpädagogen. „Die Landesregierung muss die Attraktivität der Sonderpädagogik steigern“, fordert Brand. Allerdings reichen die Ausbildungskapazitäten an den baden-württembergischen Hochschulen nicht aus, um den Bedarf zu decken. Hilfsweise spricht sich der VBE für Schwerpunktschulen aus, an denen mehrere behinderte Kinder aufgenommen werden können. Es gehe gar nicht anders, sagt Brand. Allerdings, betont der VBE-Vorsitzende, „die ideale Lösung wäre Inklusion an jeder einzelnen Schule“. Der Verband verlangt bessere Fortbildungen. Momentan würden zweieinhalb Tage angeboten, sinnvoll wäre laut Brand mindestens eine Woche.

Auch wenn die Sonderschullehrer knapp sind, sollen die Sonderschulen, die inzwischen Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren heißen, erhalten bleiben. Für sie fordert der VBE weitere 1000 Stellen „um das dringend notwendige hohe Fachwissen auf dem aktuellen Stand zu halten“. Die bisherigen Erfahrungen mit der Inklusion, zu der das Land durch eine UN-Konvention verpflichtet ist, zeigen, dass viele Kinder mit Behinderungen etwa ab der siebten Klasse der Regelschule den Rücken kehren und eine Sonderschule wählen.

Im einzelnen hat die Umfrage ergeben, dass die Lehrer, die bereits inklusive Lerngruppen an ihren Schulen haben, den gemeinsamen Unterricht besser bewerten, als Lehrer, die noch nichts damit zu tun haben. 68 Prozent der Lehrer mit Inklusionserfahrung finden Inklusion gut, 50 Prozent derer, an deren Schulen gemeinsamer Unterricht nicht geplant ist, lehnen ihn ab. Am größten ist die Sorge an den Schulen, an denen es noch keine Inklusion gibt, sie aber geplant ist. Dort liegt die Akzeptanz nur bei 32 Prozent. An Grundschulen ist die Zustimmung mit 60 Prozent am größten, es folgen Haupt-, Real- und Gemeinschaftsschulen mit 55 und Gymnasien mit 43 Prozent.

Die Sorge ist groß, den behinderten Kindern nicht gerecht werden zu können

Positive Aspekte des gemeinsamen Unterrichts sind den Lehrern zufolge das soziale Lernen (28 Prozent) und die Förderung sozialer Kompetenzen (26 Prozent) und die bessere Integration von Kindern mit Behinderung (22 Prozent). Die größten Befürchtungen sind, nicht behinderte Kinder könnten benachteiligt werden und die Regelschule könne den erhöhten Förderbedarf nicht leisten (14 Prozent).

Jutta Pagel-Speidel, die Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg (LVKM), nannte die sinkende Akzeptanz besorgniserregend. Der Landesverband vermisst im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zum Zwei-Lehrer-Prinzip, das vor allem beim zieldifferenten Unterricht kein Luxus sondern Basis für einen erfolgreichen Unterricht sei. Pagel-Speidel sagte, „Inklusion taugt nicht als Sparmodell. Sie erfordert eine gute und verlässliche Finanzierung, damit alle Kinder mit und ohne Behinderung davon profitieren.“

Die inzwischen oppositionelle SPD verlangt den zügigen Ausbau der sonderpädagogischen Studienplätze. die Landesregierung müsse rasch aktiv werden und den Lehrern an allgemein bildenden Schulen umfassende Fortbildungen anbieten.

Die Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) bekennt sich zur Sonderpädagogik und zur Inklusion. Allerdings brauche der Prozess Zeit. Außerdem sicherte sich den Schulen die notwendige Unterstützung zu. „Das Zwei-Pädagogen-Prinzip wenden wir dort an, wo dies pädagogisch sinnvoll ist. Wir brauchen passgenaue Lösungen und keine Versorgung nach dem Gießkannenprinzip“, so die Ministerin. Sie verwies darauf, dass in diesem und im vergangenen Jahr jeweils 200 zusätzliche Stellen für die Inklusion geschaffen worden seien. In diesem Sommer werde das Land 530 ausgebildeten Sonderpädagogen ein Einstellungsangebot machen. Die Grünen wollen das Zwei-Pädagogen-Prinzip ausbauen und mehr Studienplätze anbieten, damit die Stellen auch besetzt werden können.