Der Besuch der Oper Salome war ein besonderes Erlebnis auf der Deutschland-Reise Foto: AVE

Der Dokumentarfilm „Unser Deutschland“ entstand mit minimalem Zeitaufwand – und schildert die Hoffnungen zweier syrischer Flüchtlinge auf einen Neuanfang im fremden Land.

Stuttgart - Die Würde des Menschen ist unantastbar. Lange bevor der 39-jährige Syrer Fadi Bitar im vergangenen Herbst in Deutschland um Asyl bat, entdeckte er diesen Satz im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Die Worte und das darin enthaltene Versprechen haben ihn seither nicht mehr losgelassen. Diese Worte stehen im Gegensatz zu alldem, was der 39-Jährige in den Trümmern seiner Heimat an Schrecklichem erlebt hat. „Diese Worte haben mein Leben verändert“, sagt Fadi und dann bricht er auch schon auf zu einer Reise. Begleitet von einem Filmteam ist er zusammen mit seinem   vier Jahre jüngeren Landsmann Tarek Nijmeh   zu einer   knapp 14 Tage   dauernde Winterreise  quer durch ganz Deutschland aufgebrochen. Es ist eine Kennenlerntour durch ein Land, das, hin- und hergerissen zwischen Gebrüll und Sprachlosigkeit, mehr denn je Worte statt Parolen braucht.

»Unser Deutschland« heißt dieser zweiteilige Dokumentarfilm, der am heutigen Mittwoch zur besten Sendezeit auf 3sat, ab 20.15 Uhr, zu sehen ist. Stuttgart spielt bei diesem dokumentarischen Experiment, das in Rekordzeit und mit minimaler Vorplanung gedreht worden ist, eine ganz besondere Rolle: Ein Großteil des Filmteams lebt in der Region Stuttgart. Und im Film nimmt das Große Haus der Staatstheater eine ganz besondere Rolle ein. Fadi und Tarek besuchen dort die von Kirill Serebrennikov inszenierte Oper „Salome“.

„Stuttgarts weltberühmte Oper steht stellvertretend für deutsche Hochkultur“, sagt Regisseur Thomas Lauterbach. Der Richard-Strauss-Abend wird zu einem Schlüsselerlebnis der Reise der beiden Syrer. Erzählt wird dieser „Clash of Cultures“ als Bühnenwerk mit modernen Mitteln - bis hin zum verpixelten Terrorvideo. Die beiden syrischen Protagonisten sind tief ergriffen von dieser Station ihrer Reise. Später sieht man die beiden am Eckensee stehen und hört ihnen zu, als sie ihre Träume in Worte fassen. Für einen Abend scheint es möglich zu sein, dass auch aus den Trümmern ihres Lebens eine neue Zukunft wachsen könnte, dass die Kunst und die Fantasie für einen Moment stärker sein könnten als die Realität der Staatsgewalten.

Regisseur ist Dozent an der Filmakademie Ludwigsburg

Dass die beiden syrischen Deutschlandentdecker ausgerechnet an der Stuttgarter Staatsoper die Tiefe deutscher Kultur ausloten, hat Regisseur Lauterbach, der außerdem Dozent an der Filmakademie in Ludwigsburg ist, einem früheren Projekt zu verdanken. Mit dem Dokumentarfilm „Hochburg der Sünden“, der von den Probenarbeiten mit Theaterregisseur Volker Lösch am Stuttgarter Schauspielhaus erzählte, hatte er 2010 auf sich aufmerksam gemacht. Später drehte er mit »Das kalte Eisen« einen viel beachteten Film über den Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden, der für den Deutschen Dokumentarfilmpreis nominiert wurde. Mit »Unser Deutschland«, den Lautenbach zusammen mit der Autorin Johanna Behre entwickelte, hat er wieder Neues gewagt. „Es ist eigentlich Wahnsinn, eine solchen Film in nur zwölf Drehtagen zu realisieren“, erzählt der Filmemacher. Der Film sollte allerdings bewusst in so kurzer Zeit verwirklicht werden, damit er den noch fremden Blick der beiden Syrer auf unser Land einzufangen vermag.

Die einzelnen Stationen der Reise - unter anderem ein Besuch in der Münchner Allianz-Arena, weil Tarek ein großer Bayern-Fan ist - waren nur grob geplant. Und viele Situationen entstanden spontan und sind gerade deswegen zu kostbaren, stellenweise richtig lustigen Filmmomenten geworden. Auf einer Bahnreise beispielsweise kommt Fadi über alle Sprachhürden hinweg mit einem älteren Ehepaar ins Gespräch. Aus den unbeholfenen Verständigungsversuchen entwickelt sich ein tiefsinniges Gespräch über Schuld und Verantwortung, über Krieg und Politik. Der Zuschauer staunt, wie mit Hilfe von Pantomime und ein paar Zeitschriften die ganze syrische Situation mit allen ihren weltpolitischen Verstrickungen erklärt werden kann.

Manche Filmmomente wirken lange nach

Verdichtet hat die Aufzeichnungen übrigens sehr gekonnt der Stuttgarter Filmemacher Torsten Truscheit, der früher bereits mit Lauterbach zusammenarbeitete. „Während das Team noch drehte, konnte ich parallel schon das Material am Computer sichten“, berichtet Truscheit von einem Arbeitsprozess, der trotz aller Spontaneität eben auch sehr effizient war.

Manche Filmmomente wirken lange nach: Beim Rüdesheimer Niederwalddenkmal, das an die Gründung des Deutschen Kaiserreichs erinnert, lernt Fadi eine junge Frau kennen. Aus dieser sehr kurzen Szene entwickelt sich ein poetisches Bild: Die Frau beginnt mit Blick auf den Rhein für sich zu singen, die Kamera bleibt einfach bei ihr. Die junge Iranerin hatte an diesem Tag nach langer Flucht ihre Familie wieder gefunden.

Doch es gibt nicht nur Freude auf dieser Reise. Später im Film wagen sich Fadi und Tarek auf eine Pegida-Demonstration. Es ist ein Moment, der dem Zuschauer den Atem stocken lässt.

„Das Filmteam hat im Hintergrund immer eine Traube um die beiden gebildet“, berichtet Regisseur Lauterbach.

Was haben Fadi und Tarek bei ihrer Deutschlandreise entdeckt? Eine Antwort gibt vielleicht diese Anekdote aus Stuttgart, von der Thomas Lauterbach im kleinen Kreis berichtet. Normalerweise hätten die beiden so schnell gar keine Karten und schon gar keine guten Plätze im Stuttgarter Opernhaus erhalten. Aber ein Kulturfreund, der im Film anonym bleiben wollte, verzichtete kurzerhand an diesem Abend auf sein Abonnement und schenkte den beiden Syrern seine Karten.

Kleine Geste, große Wirkung. Auch das ist Deutschland im Winter 2016.