Der Angeklagte Sanel M. verbirgt sein Gesicht hinter einem Briefumschlag Foto: Getty

Sanel M. hat zum Prozessauftakt den tödlichen Schlag gegen Tugce gestanden. Die Familie der getöteten Studentin tritt vor Gericht als Nebenkläger auf. Für sie ist der Tod der Tochter noch immer nicht zu fassen.

Darmstadt - Schon nach den ersten Worten bricht seine Stimme. „Ich habe in der Tatnacht Tugce eine Ohrfeige gegeben, dann ist sie umgefallen“, hat Sanel M. mit leiser Stimme in Richtung der Richterbank gesagt, den Kopf nach vorne über den Tisch gebeugt, wo ein Blatt mit wenigen Sätzen liegt. Er liest ab, und doch bringt er die Worte kaum hervor.

Das Sprechen ist ein Schluchzen, ein Weinen: „Es tut mir unendlich leid, was ich getan habe. Ich habe nie mit ihrem Tod gerechnet. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für ein Leid ich der Familie angetan habe. Es tut mir so Leid.“

Die Menschen, denen Sanel M. die Tochter, die Schwester genommen hat, sitzen schräg hinter ihm. Mit eisigen Mienen und Blicken, gerichtet auf Sanel M., haben der Vater, die Mutter und die beiden Brüder von Tugce A.bayrak die kurze Erklärung verfolgt.

Dann wenden sie sich ab, und ihre Blicke gehen irgendwo ins Nichts von Gerichtssaal 3. Familie Albayrak ist zum Prozessauftakt gekommen, um eine Antwort darauf zu finden, warum die 22-jährige Tugce sterben musste. Um den Angeklagten, den 18-jährigen Sanel M., zu sehen, der ihre Tochter in der Nacht des 15. November 2014 nach einem heftigen Wortgefecht so schlug, dass sie reaktionslos zu Boden fiel, mit dem Kopf aufschlug und später ihren schweren Schädelverletzungen erlag.

Weil die Lehramtsstudentin aus Gelnhausen zuvor zwei 13- und 14-jährige Mädchen in der Damentoilette einer Offenbacher McDonald’s-Filiale vor der Belästigung durch Sanel M. und zwei Freunde beschützt haben soll, wurde Tugce anschließend zur Heldin, zum Symbol für Zivilcourage. Der vorbestrafte Sanel M. hingegen wurde zum Sinnbild des gescheiterten Jugendlichen, zum skrupellosen und gewalttätigen Dämon. Seit Freitag verhandelt die Große Strafkammer des Landgerichts Darmstadt über die Unglücksnacht.

Draußen vor dem Gericht erinnert eine Gruppe von 50 Leuten mit Transparenten an die umgekommene Studentin. Drinnen ermahnt der Vorsitzende Richter Jens Aßling einige Zuschauer, von Demonstrationen abzusehen und ihre T-Shirts mit Tugces Gesicht drauf auszuziehen oder mit einer Jacke zu bedecken.

Mit einem braunen DIN-A4-Umschlag vor dem Gesicht ist Sanel M. in den Gerichtssaal gekommen – zum Schutz vor den Kameras. Vier Schritte, mehr geschoben als selbst gegangen, dann sitzt er auf der Anklagebank neben Stephan Kuhn, einem seiner drei Anwälte. Sanel M. hat ein blasses Gesicht, er ist groß und hat dennoch schmächtige Schultern, in der Untersuchungshaft hat er offenbar abgenommen. Die braunen Haare hat er sich eine Weile nicht schneiden lassen, er trägt Jeans und einen enganliegenden weißen Pullover.

Die Anklageschrift verliest die Staatsanwaltschaft in gerade mal zwei, vielleicht drei Minuten: die Entstehung des Streits zwischen Tugce und Sanel M. in der Damentoilette, die anschließenden Wortgefechte, der Schlag mit der flachen Hand, die tragischen Folgen. Wegen Körperverletzung mit Todesfolge ist Sanel M. angeklagt. „Der Angeklagte konnte erkennen, dass die Tat zum Tod führen konnte.“

Schwere psychologische Folgen für die Familie

Als erster Zeuge berichtet Tugces ältester Bruder Dugus von den schlimmen Folgen, die der tragische Tod seiner Schwester für die Familie habe. „Nach der ersten Schockphase befinden wir uns nun in der Realisierungsphase, die ist noch schlimmer“, erklärt der 26-Jährige, der zusammen mit seiner Schwester an der Universität Gießen studierte, gefasst.

Seine Eltern seien seit dem Verlust der Tochter nicht mehr in der Lage zu arbeiten, der kleine Bruder habe seine Ausbildung abgebrochen. Ein Teil der Familie sei in psychologischer Behandlung. „Jedem einzelnen von uns geht es so schlecht wie nie zuvor im Leben.“ Seine Schwester sei ein lebensfroher Mensch gewesen, liebevoll, selbstständig, mit einem hohen Gerechtigkeitsempfinden.

Dann fragt Richter Aßling nach, widmet mehr als 20 Minuten allein dem Thema Alkohol. Wie oft Tugce getrunken habe, wie sie auf Alkohol reagiert habe, will Aßling wissen. Denn Alkohol könnte bei der Bewertung des Tathergangs eine Rolle spielen. Sowohl Sanel M. als auch Tugce hatten getrunken. Alle drei Monate habe Tugce mal Party gemacht, er selbst habe sie nie alkoholisiert erlebt, berichtet der Bruder.

Sanel M. erzählt, er habe mit Freunden häufiger Whisky mit Cola oder Red Bull getrunken, sei danach auch leichter zu reizen gewesen. „Wie auch immer das hier ausgeht, ich will später arbeiten“, erklärt er, nach seiner Zukunft gefragt.

Bevor im Gerichtsaal wieder und wieder die Bilder gezeigt werden, die Überwachungskameras in der Tatnacht aufgezeichnet haben, und bevor anschließend die beiden vermeintlich in der Tatnacht belästigten Mädchen unter Ausschluss der Öffentlichkeit befragt werden, gibt es eine Pause.

Im Gang vor dem Gerichtssaal übt sich Macit Karaahmetoglu, der Nebenklageanwalt von Tugces ältestem Bruder, in der Deutung der Geschehnisse: „Die Erklärung des Angeklagten war sehr knapp und floskelhaft“, sagt er. Es sei nicht klar, ob Reue tatsächlich der Grund für Sanel M.s emotionale Erklärung sei – oder seine eigene schwierige Situation.

Tränen will Karaahmetoglu bei Sanel M. nicht gesehen haben, anders als Oberstaatsanwalt Alexander Homm. Vor der Vernehmung der zwei 13 und 14 Jahre alten Mädchen, denen Tugce in der Tatnacht zu Hilfe gekommen sein soll, verriet Homm, dass sich die Aussagen der beiden sehr unterschieden. „Aber keine von beiden hat sich bedroht gefühlt“, sagte Homm.

Der auf zehn Verhandlungstage angelegte Prozess wird am Montag fortgesetzt. Dann werden erste Tatzeugen aussagen.