Beherztes Lachen verträgt sich nach Ansicht von Vize-Premier Arinc nicht mit der Tugendhaftigkeit türkischer Frauen – im Foto:  

Der türkische Vizepremier Arinc hat einen allgemeinen Sittenverfall im Land beklagt. Er empfahl seinen Landsleuten, den Koran zu lesen. Fernsehen und Internet hätten zu einer „Sex-Abhängigkeit“ geführt. Dabei sei Tugendhaftigkeit wichtig. Bei Frauen bedeute dies, dass sie nicht in aller Öffentlichkeit lachen sollten.

Istanbul/Gaziantep - Das herzhafte Lachen einer Frau in der Öffentlichkeit ist in der Türkei ab sofort eine politische Aktion. Mehrere Hundert Fotos lachender Türkinnen tauchten am Dienstag in den sozialen Medien des Landes auf – Reaktionen auf eine Äußerung von Vizepremier Bülent Arinc, eines führenden Vertreters des religiösen Flügels der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Arinc hatte einen allgemeinen Verfall der Sitten in der Türkei beklagt und hinzugefügt, die Sittsamkeit sei ein hohes Gut, das gepflegt werden müsse. Bei Frauen gehört laut Arinc dazu, sich zurückhaltend zu kleiden und „nicht vor allen Leuten laut loszulachen“.

In den vergangenen Jahren hatte Arincs Chef Recep Tayyip Erdogan mit Vorstößen für Alkoholverbote, eine Bestrafung des Ehebruchs und für ein Verbot gemischt-geschlechtlicher Wohngemeinschaften die Angst vor einer Islamisierung der Türkei angefacht. Jetzt wird das weibliche Lachen zum Ausdruck des Widerstands gegen eine Regierung, die nach Meinung ihrer Kritiker immer mehr in das Privatleben der Bürger eingreift und die Gesellschaft nach ihren eigenen islamisch-konservativen Vorstellungen formen will.

Erdogans wichtigster Konkurrent bei der anstehenden Präsidentenwahl am 10. August, Ekmeleddin Ihsanoglu, erklärte über Twitter, nichts sei für die Türkei derzeit so wichtig wie das fröhliche Lachen der Frauen. Im Internet wurde Arinc als selbst ernannter Sittenwächter beschimpft. Die Fernsehjournalisten Banu Güven rief zu wöchentlichen Lach-Demos von Frauen auf.

Mit seinen 66 Jahren nähert sich Arinc dem Ende seiner politischen Karriere. Als Regierungssprecher wurde Arinc 2013 von Erdogan öffentlich dementiert und gedemütigt.

Doch an seiner Loyalität und seiner Frömmigkeit ändert das nichts. In seiner Heimatstadt Bursa kam er jetzt auf den moralischen Zustand des Landes zu sprechen – der seiner Meinung nach alles andere als gut ist. „Wo sind die Mädchen, die leicht errötend die Augen niederschlagen, wenn sie uns anschauen, und so zu Symbolen der Sittsamkeit werden?“ fragte er. Arinc geißelte den Drogenkonsum schon junger Menschen, Gewalt gegen Frauen und die Freizügigkeit von Fernsehshows, die zu einer „Sex-Abhängigkeit“ führe.

Das richtige Mittel, den Verfall aufzuhalten, ist laut Arinc die Lektüre des Korans und das daraus folgende tugendhafte Verhalten. Männer sollten ihren Frauen treu sein, und Frauen sollten eben nicht in der Öffentlichkeit lachen. Auch lange Handy-Gespräche der Frauen gehen Arinc auf die Nerven – dabei werde doch nur getratscht, sagte er. Selbst gegen Benzinverschwendung beim Autofahren schimpfte er an. Früher sei das alles anders gewesen.

Arincs Ausfall ist aus Sicht von Kritikern aber keineswegs nur die skurrile Gesellschaftskritik eines alternden Politikers. Kurz vor der Wahl am 10. August lassen Arincs Bemerkungen bei Regierungsgegnern die Befürchtung wachsen, die Türkei solle unter einem Präsidenten Erdogan zu einem islamisch-autoritären Staat umgeformt werden. Arinc habe ein Beispiel für die Vision der AKP für das 21. Jahrhundert gegeben, erklärte Oppositionspolitiker Umut Oran.

Doch weder die Angst vor einer Islamisierung noch die Verbote von Twitter und You Tube, das harte Vorgehen gegen die Gezi-Proteste oder die Korruptionsvorwürfe werden zum Problem für Erdogan. Sondern ausgerechnet seine international gelobte Bereitschaft, alle syrische Flüchtlinge aufzunehmen, die über die 900 Kilometer lange Grenze kommen. Die Flüchtlingspolitik der offenen Tür ist die offene Flanke des Regierungschefs.

Kadir Sengir packt die Pralinen aus. Gerade ist eine neue Lieferung eingetroffen im Laden des Süßwarenhändlers in Gaziantep im Südosten der Türkei. Sengir hat die Ware für den Bayram eingekauft, das dreitägige Fest am Ende des Fastenmonats Ramadan, wenn sich die Türken mit vielen Süßigkeiten nach dem wochenlangen Verzicht belohnen. Eigentlich Hochsaison für einen Pralinenverkäufer. Aber Festtagsstimmung verbreitet Sengir nicht gerade. Er ist sauer auf die Regierung von Ministerpräsident Erdogan, die so viele syrische Flüchtlinge ins Land gelassen hat. Und deshalb will er es Erdogan zeigen, bei der Präsidentenwahl.

Mürrisch reißt Sengir mit seinen massigen Händen die Pralinenpackungen aus den Kartons und stapelt sie im verspiegelten Regal hinter der Theke. Dann zeigt er auf seine Kasse, in der nur ein paar zerkrumpelte Lira-Scheine liegen. „Ich brauche tausend Lira Umsatz am Tag, um über die Runden zu kommen“, sagt er. Das sind rund 350 Euro. „Heute sind es jetzt gerade einmal 150 Lira.“ Dabei betreibt Sengir sein Geschäft in bester Lage an der Inönü Caddesi, einer normalerweise belebten Einkaufsstraße von Gaziantep. „Schauen Sie doch mal raus, da ist kein Mensch“, schimpft Sengir.

Der Grund sind die Syrer, da ist er sich sicher. „Die klauen und betteln. Ich lasse meine kleine Tochter nicht mehr alleine auf die Straße.“ In Gaziantep, einer Stadt von 1,5 Millionen Menschen, leben geschätzte 200 000 Syrer, die Grenze verläuft nur 60 Kilometer südlich von hier.

Insgesamt hat die Türkei rund 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, seit im Frühjahr 2011 der Aufstand gegen Baschar al-Assad beim südlichen Nachbarn losbrach. Nur etwa 20 Prozent von ihnen leben in den gut organisierten Flüchtlingslagern, die Erdogans Regierung bauen ließ. Weltweit gibt es viel Anerkennung für die Aufnahmebereitschaft der Türken, doch bei Leuten wie Sengir gärt es. Die Nachfrage durch die Neuankömmlinge lässt in Gaziantep und anderswo die Mieten steigen, weil sich reiche Syrer teure Wohnungen leisten können, und die Löhne fallen, weil sich arme Syrer weit unter dem türkischen Mindestlohn als Bauarbeiter und Tagelöhner verdingen. In den ersten Jahren des Syrien-Konfliktes herrschten bei den Türken noch Mitleid und Hilfsbereitschaft den Gästen aus dem Bürgerkriegsland gegenüber – inzwischen weicht die Sympathie immer häufiger offener Feindseligkeit.

In Gaziantep musste die Polizei vor ein paar Wochen einen syrischen Autofahrer vor einem türkischen Lynchmob retten. Der Syrer hatte eine türkische Frau und ihr Kind angefahren. Die wütende Menge zertrümmerte die Scheiben des Autos. „Die Türkei gehört uns“, skandierten die Angreifer.

Viele in der Stadt hätten so die Nase voll von den Flüchtlingen, „dass es bald eine Explosion geben könnte“, sagt Kleinhändler Abdullah Korkmaz. „Wenn sich die Türken in Deutschland so aufführen wie die Syrer hier, dann schmeißt sie raus.“ Er hat beobachtet, dass kaum noch geheiratet wird in seiner Bekanntschaft: Junge Brautleute können sich keine Wohnung mehr leisten. Viele Syrer dagegen schon, sagt er: „Wir sind Fremde im eigenen Land geworden.“ Es ist ein Satz, den man häufig hören kann in Gaziantep und im Grenzgebiet. Auch Ladeninhaber Sengir kann ihn unterschreiben. Er hat genug von Erdogan und dessen Regierungspartei AKP. „Die AKP ist für mich erledigt“, sagt er. „Ich habe bisher AKP gewählt, aber damit ist Schluss.“

Die Kunden in seinem Laden pflichten ihm bei. Einer von ihnen, der 26-jährige Verkäufer Sinan Dagli, ist vor einem Monat mit seiner Frau und seinen zwei Kindern aus seiner Mietwohnung geflogen. Sie zahlten 300 Lira im Monat, doch syrische Interessenten boten dem Vermieter 750 Lira. Jetzt wohnt er mit seiner Familie bei seinen Eltern und will nicht mehr für Erdogan stimmen.

Die Protestwähler werden kaum verhindern, dass Erdogan, der in den Umfragen klar vorne liegt, neuer Staatspräsident wird. Doch sie könnten den machtgewohnten Premier ein paar entscheidende Prozentpunkte kosten und seinen Sieg im ersten Wahldurchgang vereiteln: Sollte Erdogan unter 50 Prozent bleiben und sich am 24. August einer Stichwahl stellen müssen, wäre das für ihn so etwas wie eine Niederlage.

Zum ersten Mal können in Deutschland lebende Türken hierzulande über den Präsidenten ihrer Heimat abstimmen. Das Interesse an der Wahl ist groß – die Türkische Gemeinde rechnet mit einer Wahlbeteiligung von etwa 70 Prozent. Ihr Vorsitzender, Gökay Sofuoglu, führt das auf Versäumnisse der deutschen Politik zurück. „Als deutscher Politiker muss man sich Gedanken machen, warum fast eineinhalb Millionen Menschen in Deutschland plötzlich ein großes Interesse an einer Wahl irgendwo in der Welt haben, die sie gar nicht direkt beeinflusst.“