Hat sein Referendum durchgebracht: Präsident Erdogogan Foto: AP

Die Türkei braucht ihre westlichen Partner – darauf lässt sich bauen, kommentiert Chefredakteur Christoph Reisinger.

Stuttgart - Es gibt noch Hoffnung. Zwar sind die Weichen nun so gestellt, dass der Türkei eine autoritäre Präsidialherrschaft blüht, und das sogar gemäß Verfassung. Aber um zwei Grundfesten der internationalen Beziehungen kommt auch die Türkei nicht herum: Sie kann ihre geografische Lage nicht ändern und ohne auswärtige Partner die großen Herausforderungen der Globalisierung nicht meistern.

Genau da ist in der weiteren Ausgestaltung der deutsch-türkischen und der Beziehungen der EU zu dieser strategisch so wichtigen Nachbarin anzusetzen. Trotz aller Enttäuschung über die Wahlentscheidung, trotz aller Ernüchterung über die Feindseligkeit des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Mit Wurstigkeit gegenüber den negativen Veränderungen in der Türkei, mit ängstlichem Kuschen hat das nichts zu tun. Sich auf das zu konzentrieren, was jetzt noch verbindet, folgt vielmehr der unromantischen, aber zutiefst richtigen Einschätzung: Weniger Gefühle, vielmehr handfeste Interessen bestimmen zwischenstaatliche Beziehungen.

Da mangelt es nicht an deutsch-türkischen Gemeinsamkeiten – den schrillen Tönen hüben und vor allem drüben zum Trotz, die seit Monaten einen anderen Eindruck erwecken. Mehr als 6800 Unternehmen in der Türkei haben deutsche Eigner. Deutsche Direktinvestitionen in der Türkei von 402 Millionen Euro allein im vergangenen Jahr sind kein Pappenstiel. Knapp 100 000 türkischstämmige Unternehmer erwirtschafteten in Deutschland rund 50 Milliarden Euro und beschäftigen etwa eine halbe Million Mitarbeiter. Deutschland bleibt der wichtigste Handelspartner der Türkei.

Türkei steht schwächer da als noch vor Jahren

Diesem Land wiederum ist 2016 so deutlich wie lange nicht vor Augen geführt worden: Wohlstand, Aufschwung, Stabilität für seine rasant wachsende Bevölkerung hängen unmittelbar von der Qualität der Außenbeziehungen ab. Deutsche Touristen blieben in Scharen aus, die Investitionen aus dem Ausland gingen in der ersten Jahreshälfte gegenüber dem Vorjahr um knapp die Hälfte zurück, die Arbeitslosigkeit stieg beträchtlich auf offiziell 11,3 Prozent der Erwerbsfähigen. Zugleich brachen die Märkte in der südlichen Nachbarschaft weg wegen der durch Erdogans Politik zusätzlich angestachelten Konflikte im Irak, in Syrien und in den türkischen Kurdengebieten.

Wie viel schwächer als noch vor zehn Jahren die Türkei heute dasteht, um wie viel mehr sie auf ihre Nato- und ihre großen Handelspartner im Westen angewiesen ist, spiegelt sich in ihrer restlos gescheiterten Syrien-Politik wider. Ohne Not von Anfang an als Kriegspartei im Nachbarland aktiv, hat die Türkei dort eine krachende Niederlage erlitten. Auch die Beziehungen zu fast allen anderen Nachbarn haben gelitten.

Debatten hierzulande, welche EU-Mittel der Türkei als erste zu streichen wären, sind daher die falschen. Und überflüssig alle Überlegungen, wie sich die bilaterale Zusammenarbeit reduzieren lässt oder ob womöglich die Integration gescheitert sei, bloß weil knapp 15 Prozent der in Deutschland lebenden Türken für Erdogan gestimmt haben.

Nach innen wie außen auf Krawall gebürstet

Die Türen offen halten, eng zusammenarbeiten, wo es beiden Seiten nützt, dafür klare Bedingungen stellen und Europas Werte nicht verhandeln – das ist jetzt der richtige Weg. Sicher, noch pfeifen Erdogan und seine Stützen auf Partnerschaft. Aber sie – und ihre Wähler – werden merken: Genau deshalb haben sie den Höhepunkt ihrer Macht schon hinter sich. Ihre nach innen wie außen auf Krawall gebürstete Politik erschöpft die Türkei. Sie lässt sich deshalb auch nicht durchhalten.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de