Die Beerdigungszeremonie für den 15-Jährigen Berkin Elvan. Foto: Getty

In der Türkei rufen die Angehörigen drei getöteter junger Männer zu Besonnenheit auf. Die Politik polarisiert das Land weiter.

In der Türkei rufen die Angehörigen drei getöteter junger Männer zu Besonnenheit auf. Die Politik polarisiert das Land weiter.

Istanbul - „Gott sei Dank für diese Väter“, kommentierte die Zeitung „Hürriyet“ am Wochenende. Sami Elvan, Halil Karamanoglu und Süleyman Kücüktag teilen einen Schmerz: Alle drei verloren in den vergangenen Tagen ihre Söhne, in allen drei Fällen spielten die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Anhängern der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine Rolle. Die Väter nahmen Kontakt miteinander auf und betonten, sie würden es nicht zulassen, dass der Tod ihrer Kinder zum Instrument politischer Debatten oder eines „Klimas des Hasses“ missbraucht werde. Die Besonnenheit der Väter steht im scharfen Kontrast zur Politik, die das Land immer weiter polarisiert.

Elvans Sohn Berkin starb am Dienstag nach monatelangem Koma – er war während der Gezi-Proteste im vergangenen Sommer von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen und schwer verletzt worden. Der Tod des 15-jährigen löste neue Straßenschlachten in Istanbul und anderen türkischen Städte aus. Am Rande der Unruhen wurde Karamanoglus Sohn Burak in Istanbul von Linksextremisten mit einem Kopfschuss getötet. Im ostanatolischen Tunceli starb der junge Polizist Ahmet Kücüktag während des Einsatzes bei einer Demonstration an einem Herzinfarkt.

Nicht nur die Todesfälle haben die türkische Öffentlichkeit geschockt, sondern auch die Art und Weise, wie die Politiker kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März damit umgingen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan weigerte sich zunächst, auch nur ein Wort der Anteilnahme zum Tod des Jugendlichen Berkin zu sagen, rückte den Teenager dann in die Nähe eines Terroristen. Den Teilnehmern der von Berkins Tod ausgelösten Protestdemonstrationen warf Erdogan vor, sie wollten der Türkei schaden.

Unterdessen besuchten Oppositionspolitiker demonstrativ die trauernde Familie Elvan. Die Tatsache, dass die Elvans zu den Aleviten gehören, einer religiösen Minderheit, die sich von der Mehrheit der sunnitischen Muslime in der Türkei unterdrückt fühlt, verleiht den Spannungen eine weitere Dimension. Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei ist mehrheitlich sunnitisch, während die Aleviten zu den Stammwählern der säkularistischen Oppositionspartei AKP gehören.

Wenn Erdogan so weitermache, stehe die Türkei vor schweren Auseinandersetzungen, warnte der Kommentator Hasan Cemal. Kritiker wie er werfen der AKP vor, sie lasse die Spannungen in der Gesellschaft bewusst eskalieren, um ihre Wähler zu motivieren. Doch auch aufseiten der Regierungsgegner gibt es Radikalisierung. Bei den jüngsten Demonstrationen wurde Erdogan in Schlachtrufen als „Mörder“ bezeichnet.

Brücken zwischen beiden Lagern gibt es immer weniger. Auch deshalb erhielt die Initiative der Väter der Todesopfer so viel Aufmerksamkeit. Staatspräsident Abdullah Gül erklärte, die Väter sollten allen ein Vorbild sein. Es sieht aber nicht danach aus, dass die Besonnenheits-Appelle der Väter erhört würden. Erdogan bezeichnete die Demonstranten auf den Straßen des Landes auch nach Güls Einspruch weiter als „Vandalen“, denen er die Türkei nicht überlassen werde. Die Opposition in Ankara setzte für den kommenden Mittwoch eine Sondersitzung des Parlaments durch. Dabei wird über Anträge der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität von vier Ex-Ministern des Kabinetts Erdogans gesprochen, die wegen der Korruptionsaffäre zurücktreten mussten.

Derzeit ist es laut den Umfragen so gut wie sicher, dass Erdogans AKP am 30. März wieder stärkste Partei wird. Unklar ist, wie groß der Abstand zu den anderen Parteien wird und ob das Ergebnis ausreicht,eine Basis für eine Kandidatur Erdogans für das Präsidentenamt zu schaffen. Die Türken wählen am 10. August ihr Staatsoberhaupt erstmals per Direktwahl.