Ein Sudanese wird von der kanadischen Royal Mountain Police nahe Hemmingford (Quebec) beim Grenzübertritt erwischt. Foto: Getty

Flüchtlinge verlassen zu Fuß die USA, um im Nachbarland vor Abschiebung sicher zu sein. Dabei nehmen sie große Gefahren in Kauf.

Ottawa - Kanadische Regionen entlang der Grenze zu den USA spüren die Auswirkungen der gegen Immigration und Flüchtlinge gerichteten Politik von US-Präsident Donald Trump. Bereits im vergangenen Jahr war die Zahl derer, die aus den USA zu Fuß über die Grenze nach Kanada kamen und um Asyl baten, gestiegen. Seit der Jahreswende kommen immer mehr. Der Weg ist lebensgefährlich. Kinder und Erwachsene leiden unter der Kälte.

Rita Chahal hat stets das Bild des syrischen Jungen Alan Kurdi vor Augen, der 2015 bei der Flucht seiner Familie im Mittelmeer ertrank und dessen lebloser Körper an einen Strand in der Türkei gespült wurde. „Ich hoffe, dass wir ein ähnliches Bild niemals von einem schnee- und eisbedeckten Präriefeld sehen werden. Aber die Gefahr, dass Flüchtlinge bei diesem Wetter ums Leben kommen, ist groß. Ich bin sehr besorgt“, sagt Chahal, Leiterin des Manitoba Interfaith Immigration Council in Winnipeg, Hauptstadt der Provinz Manitoba.

Die Grenze zwischen Norddakota und Manitoba ist einer der Abschnitte der Tausende Kilometer langen Grenze zwischen beiden Ländern, die viele illegale Grenzübertritte sehen. „In den vergangenen Jahren hatten wir im Durchschnitt 50 bis 60 Flüchtlinge, die in Manitoba zu Fuß über die Grenze kamen und in Kanada den Antrag auf Anerkennung als Flüchtling stellten“, berichtet Chahal. Im Laufe des Jahres 2016 wuchs die Zahl kontinuierlich. Seit dem 1. April 2016 sind es laut Grenzbehörden bereits mehr als 500. Auch Quebec sieht mehr Flüchtlinge über die Grenze kommen. Allein im Januar überquerten rund 450 Menschen die Grenze, um in Kanada Asyl zu beantragen.

„Wir sind jung, wir sind stark. Wir werden es schaffen“

Chahals Sorge, dass Menschen ums Leben kommen könnten, ist nicht unbegründet. Flüchtlinge, die vor allem aus afrikanischen oder arabischen Ländern kommen, berichten von der grausamen Kälte. Bei minus 20 Grad und heftigem Wind, der die gefühlte Temperatur auf unter 30 Grad drücken kann, bei der ungeschützte Haut binnen einiger Minuten erfriert, wagen sie den Fußmarsch, manche mit Kindern im Kinderwagen oder auf dem Arm.

Razak Lyal und Seidu Mohammed aus Ghana waren am Heiligabend über die Grenze nach Manitoba gekommen, inmitten einer bitterkalten Nacht. Nun berichten sie über ihre Erlebnisse. Ihre Hände – oder das, was von ihnen geblieben ist – sind dick verbunden. Fast alle Finger mussten amputiert werden. Sie waren erfroren. Stundenlang waren die Ghanaer gelaufen, nachdem sie ein Taxifahrer aus Minneapolis an die Grenze gebracht hatte. Ein Lastwagenfahrer auf kanadischer Seite nahm sie auf und rief Hilfe herbei. Sie wurden in ein Krankenhaus gebracht. Wochen später fühlen sie immer noch die Schmerzen. „Aber wir sind jung, und wir sind stark. Wir werden es schaffen“, sagt Mohammed, bei dem wenigstens die Daumen gerettet werden konnten. Auch Farhan Ahmed aus Somalia, der im Februar in einer Gruppe von Flüchtlingen, darunter eine Familie mit Kindern, über die vereisten Felder nach Kanada kam, wird die Kälte nie vergessen. „Es war sehr, sehr kalt und eisig.“ Glücklicherweise griff ihn die Polizei auf und brachte ihn zu einer Grenzstation. „Sie wärmten uns. Ich konnte meine Hände nicht mehr spüren“, erzählt er.

Viele Flüchtlinge aus Afrika haben einen abenteuerlichen Weg hinter sich. Für viele führt die Route von Afrika nach Brasilien, quer durch das Land nach Peru und dann auf der Panamericana über Kolumbien nach Zentralamerika. In Ländern wie Nicaragua und Guatemala drohen, wie sie berichten, Gefahren durch Banditen, bis sie in die USA kommen und Richtung Kanada ziehen.

Wenn es wärmer wird, werden noch mehr kommen

Dass Flüchtlinge den illegalen Grenzübertritt nach Kanada über schneebedeckte Felder wählen, liegt an dem Abkommen zwischen Kanada und den USA, in dem die USA als „sicherer Zufluchtsort“ (Safe Third Country) bezeichnet wird. Wer mit Flugzeug oder Auto an Flughäfen und Grenzübergängen aus den USA nach Kanada kommt, wird in die USA zurückgeschickt, weil er dort – zumindest auf dem Papier – bereits in Sicherheit war und dort den Antrag auf Flüchtlingsstatus stellen muss. Aber eine Ausnahme gilt: Wer bereits in Kanada ist, etwa weil er zu Fuß nach Kanada kommt, auf der kanadischen Seite von Polizei oder Grenzbehörden aufgegriffen und dann an einen offiziellen Grenzübergang für die Formalitäten gebracht wird, der darf in Kanada den Antrag stellen. Diesen Weg wählen nun immer mehr Flüchtlinge, die sich in den USA nicht mehr willkommen fühlen und befürchten, dass ihr Antrag abgelehnt wird und sie deportiert werden.

Die Regierung von PremierministerJustin Trudeau hält bislang daran fest, Flüchtlinge nicht abzuweisen und die Grenze nicht dicht zu machen. Aber wenn es in ein paar Wochen wärmer ist, könnten noch mehr Flüchtlinge kommen. Je größer die Zahl, umso schwieriger wird es für die Regierung, ihre Politik durchzuhalten. Sie muss sicherstellen, dass die Grenze nicht unbemerkt überquert werden kann. Bundespolizei RCMP und Grenzbehörden verstärken ihr Personal an der Grenze.

Der kanadische Flüchtlingsrat fordert die Regierung Trudeau auf, das Abkommen mit den USA aus dem Jahr 2004 zu kündigen. Das Abkommen zwinge Flüchtlinge, die aus den USA kommen, „irregulär“ die Grenze zu überschreiten und sich in Gefahr zu begeben. „Wir können Leben retten, indem wir es Flüchtlingen erlauben, ihren Asylantrag zu stellen, ohne verzweifelte Schritte zu unternehmen“, sagt Janet Dench vom Flüchtlingsrat in Toronto.

„Die USA sind kein sicherer Zufluchtsort mehr“

Auch die sozialdemokratische Opposition fordert die Kündigung des Abkommens, weil „die USA kein sicherer Zufluchtsort mehr sind“. Einwanderungsminister Ahmed Hussen, der als jugendlicher Flüchtling aus Somalia nach Kanada kam, hat diese Überlegung bisher zurückgewiesen. Eine Umfrage zeigte dieser Tage, dass zwar eine Mehrheit offenbar die Flüchtlingspolitik der Regierung Trudeau stützt, jährlich rund 40 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Ein beachtlicher Teil aber, etwa 40 Prozent, meint, dass Kanada zu viele Flüchtlinge akzeptiert. 25 Prozent würden laut der Angus-Reid-Umfrage sogar eine Trump-ähnliche Politik befürworten.

Das „Welcome Centre“ des Manitoba Interfaith Immigration Council, eine mehrere Kirchen umfassende Flüchtlingshilfe, ist an die Grenzen der Kapazität gelangt und hofft auf Spenden,. „Viele dieser Menschen fliehen aus Todesangst. Sie bauen darauf, dass Kanada ein Land ist, das sie willkommen heißt“, sagt Rita Chahal. Sie rechnet damit, dass sich im Frühjahr, wenn das Wetter besser ist, der Zustrom an Flüchtlingen noch verstärken könnte. Dass der Anstieg der Flüchtlingszahlen mit der Politik von US-Präsident Trump und der Stimmung in den USA zu tun hat, liegt für Manitobas Regierungschef Brian Pallister auf der Hand. Es wäre naiv, nicht zu glauben, dass es „mit dieser Art von Haltungen, die südlich von uns geäußert werden“, zu tun hat, sagt er dem kanadischen Rundfunk CBC. „Es hat klar einen kurzfristigen Einfluss, und wir erwarten, dass es auch langfristig einen Einfluss haben könnte.“