Animationsfilmer erschaffen eigene Welten, in denen sich sehr deutlich die unsere spiegelt. Das Eröffnungsprogramm des Stuttgarter Trickfilm-Festivals im ausverkauften Gloria-Kino am Dienstagabend hat das einmal mehr eindrucksvoll bewiesen.

Stuttgart - Ein Paukenschlag gleich in der ersten Wettbewerbsrolle: Die aufmüpfige Syrerin Suleima, Feministin und Bürgerrechtlerin, demonstriert allein unter Männern gegen den Diktator Hafez al-Assad – und stellt dabei gefährliche Fragen. Sie fordert ein, was uns selbstverständlich erscheint.

In harsch animierten Tintenzeichnungen beschwört der Syrer Jalal Maghout ein Klima der Angst und formuliert eine harsche Anklage gegen das Regime in Damaskus, gegen Willkür und Frauenfeindlichkeit. Wie ein Rudel nervöser Gespenster verfolgen Kameras jeden Schritt der chancenlosen Suleima. Wenn irgendjemand Zweifel hatte, wes Geistes Kind Assad und seine Schergen sind, kann er es hier lernen von einem Augenzeugen.

So explizit politisch sind nur wenige Beiträge beim Stuttgarter Trickfilm-Festival, dafür spielen zum Auftakt oft Tiere eine Rolle. Ein wilder Ritt im Wortsinn: „Léon d’Oural“ von Alix Fizet. Zeichentrick in Computerräumen macht den Wahnsinn des Pferderennens physisch spürbar. In bunt rasendem Zeichnungsfluss biegen sich geschundene Gäule durchs Bild, und natürlich – Tierschützer ahnen es – kann das nicht gut ausgehen.#

Komplizierte Vater-Tochter-Beziehung endet mit gruseliger Jagdszene

Auf eine zweidimensionale Albtraumreise aus kunstvoll stilisierten Computerbildern geht der Franzose Julien Bisaro in „Bang Bang“. Eine komplizierte Vater-Tochter-Beziehung endet mit einer gruseligen Jagdszene im Wald: Hirsche überrennen sie, Schüsse lösen sich, ein roter Wolf durchbricht die scharfen Schwarz-Weiß-Kontraste.

Der Opa war Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg, besaß ein Gewehr und hat nicht viel gesprochen – meistens sitzt er regungslos herum in Pascal Flörks’ autobiografischem Kurzfilm „Bär“, einer im Computer glänzend fingierten Diaschau – und zwar in Gestalt eines einmontierten Grizzly-Bären. Da passt alles zusammen, die Wahl der Präsentationsform wie das Tier, die anrührende Hilflosigkeit des mächtigen Körpers wie die nüchterne Erzählung des Enkels, der den Opa nie ganz verstehen konnte, weil ein Kriegstrauma zwischen ihnen stand. Flörks ist Absolvent der Ludwigsburger Filmakademie, die sich damit gleich am ersten Festivalabend glänzend positionieren durfte.

Aus der Ludwigsburger Professorenschaft ist Jochen Kuhn regelmäßiger Gast beim Festival, seine ineinanderfließenden Gemälde haben eine ganz eigene Anmutung. In „Immer müder“ frönt er seinem ebenfalls sehr eigenen Humor: „Ich war auch immer engagiert – was haben wir gekämpft“, sagt da der Protagonist, der nun überall ständig einschläft. „Die Konkurrenz schläft nicht“, bemerkt er noch, am Ende aber kapituliert er: „Es ist doch herrlich, dieses Seinlassen.“ Trockener kann Ironie kaum sein.

Minimalistische, ausdrucksstarke Karikaturen

Auf herrliche Überzeichnung setzt der Amerikaner Nate Theis. Er zeigt minimalistische, ausdrucksstarke Karikaturen im Stau, einen schnaufenden Opa, eine Frau mit Hund, eine Mutter mit Kindern, einen Typ mit lauter Musik, die seine Frisur anhebt, und einen Spießer mit Schnauzbart.

Sie alle steigern sich in „Driving“ in ihren Autos in zornige Raserei hinein, bis sie als halbdebile Zombies schließlich platzen. Wer schon im Berufsverkehr, von Ludwigsburg kommend, den Pragsattel zu überqueren versucht hat, kann die Emotionslage nachvollziehen. Erfüllt von einem sehr englischen Sinn für Peinlichkeit kriegt in „Ray’s Big Idea“ von Steve Harding-Hill ein kleiner Fisch im überfüllten Sumpf ständig eins auf den Kopf.

Das entzündet in ihm den Geistesblitz, an Land zu gehen. Er kämpft sich zum Erstaunen seiner Kollegen einen Berg hinauf, um auch dort sofort wieder unter die Räder zu kommen – denn er war mitnichten der erste mit dieser Idee. Eine charmante Trickfilm-Miniatur aus dem Hause Aardman („Shaun das Schaf“). Der Russe Konstantin Bronzit ist bekannt für seinen urkomischen Kurzfilm „Der Gott“, in dem eine mehrarmige Statue der indischen Gottheit Shiva erfolglos eine Fliege jagt und sich dabei heillos verknotet.

Nach Liegestützen und Zentrifuge hüpfen sie auf den Betten

Nun zeigt Bronzit zwei verspielte Zeichentrick-Kosmonauten, die für den Traum vom All trainieren und sich im spaßfreien Quartier so fröhlich wie möglich die Zeit vertreiben: Nach Liegestützen und Zentrifuge hüpfen sie auf den Betten. In die Rakete darf dann freilich nur einer, und der verunglückt – worauf Bronzit aus der unheilvollen Ahnung, die die ganze Zeit über seinem absurden Szenario liegt, eine anrührende Äußerung wahrer Freundschaft werden lässt.

Eine grandiose Punktlandung in jeder Hinsicht gelingt dem Amerikaner Kameron Gates in 70 Sekunden in „A Tale Of Momentum And Inertia“. Ein steinerner Gigant wuchtet Felsen von A nach B, von denen einer aus Versehen ins Rollen kommt und direkt auf eine Menschenstadt zurast. Der Riese hastet hinterher und bremst den Brocken gerade rechtzeitig, doch seine Ferse berührt einen Turm, der prompt pulverisiert wird, worauf die Menschen ihn beschießen mit allem, was sie haben – in sehr menschlicher Ignoranz und natürlich vollkommen vergeblich.

Köstliche Mimik, perfektes Timing, liebevolle Bildgestaltung bis in die kleinsten Details: So wird Trickfilm zum reinen Vergnügen und macht Lust auf mehr – zu Beginn eines Festivals ein gutes Omen.