Roland Baisch organsiert in Stuttgart Mitsingabende Foto: promo

Bei Konzerten mitsingen? Ist das nicht völlig uncool? Von wegen! Der Trend geht zum Publikumschor. Immer mehr Rock- und Popmusiker animieren inzwischen ihre Zuhörer zum Mitsingen. Und mit dem Rudelsingen wurde inzwischen sogar ein eigener Event für Singbegeisterte kreiert.

Stuttgart - Bei den ersten Akkorden von Nancy Sinatras „Bang Bang“ reagiert das Publikum noch zurückhaltend. Doch langsam verändert sich die Stimmung in dem kleinen Stuttgarter Café, das heute rappelvoll ist. Nach anfänglich unsicheren Blicken zum rechten und zum linken Sitznachbar schmettern alle den Refrain im Chor: „My baaaby shot me doooown!“

Denn wenn Svavar Knútur die Bühne betritt, wird das Publikum zu seiner Band. Der isländische Sänger und Songwriter integriert die Zuhörer in seine Show: Sie sollen bei den Liedern mitsingen. „Das ist besser, als nur ein passiver Teilnehmer zu sein“, meint er. „Singen gibt den Leuten die Möglichkeit, aus sich herauszugehen. Und das mag eigentlich jeder.“

Neben Covern wie „There Must Be An Angel“ von den Eurythmics und Leonard Cohens „Hallelujah“ gehören auch eigene – isländische und englische – Songs zu Svavar Knúturs Repertoire. „Mit vielen Lalalas und Uhuhuus im Refrain“, sagt er, „damit jeder mitsingen kann.“

Doch mit der Gitarre am Lagerfeuer sitzen und gemeinsam singen – das scheint aus der Mode gekommen zu sein. Viel lieber lässt man sich heute immer und überall von Pharrell Williams oder Marlon Roudette beschallen – Smartphones und mobile Lautsprecher machen’s möglich.

Die fortschreitenden Technisierung macht das Selbersingen überflüssig. Zudem ist die eigene Stimme vielen peinlich, sagt der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger: „Musik ist heute ständig in perfekter Form verfügbar: Das Handy hat man immer dabei. Und in Castingshows müssen die jungen Sänger und Sängerinnen fast unglaubliche Leistungen zeigen. Gegenüber dieser stetigen Professionalisierung erleben sich manche Menschen als inkompetent und singen lieber gar nicht.“

Dabei kann Singen sogar gesundheitsfördernd sein, wie Studien belegen. So fanden etwa Wissenschaftler der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main heraus, dass beim Singen das Stresshormon Cortisol reduziert wird, während die Zahl der Immunglobuline A zunimmt – Antikörper, die für die körpereigene Abwehr zuständig sind. Schwedische Forscher wiesen dem Singen bereits in den 1990er-Jahren eine lebensverlängernde Wirkung nach.

Singen ist also gesund – doch wer sich bei Rock- oder Popkonzerten erdreistet, laut mitzusingen, wird häufig schräg von der Seite angesehen. Beim sogenannten Rudelsingen ist das anders. Dort ist das Mitsingen nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht. Der Trend kommt ursprünglich aus Norddeutschland, doch auch Süddeutsche treffen sich immer häufiger, um im Rudel Hits wie Nenas „99 Luftballons“ oder AC/DCs„Highway to Hell“ zu singen.

„Es scheint ein Bedürfnis der Menschen nach dem gemeinsamen Singen zu geben“, urteilt der Soziologe Thomas Blank von der Universität Bielefeld. „Das Singen und die Wortsprache sind zwei sich ergänzende Ausdrucksmöglichkeiten, mit denen der Mensch kommunizieren kann. Deshalb boomen solche Veranstaltungen gerade.“

Björn Heuser kann das bestätigen. Jeden Freitag steht der Musiker mit seiner Gitarre auf der Bühne des Kölner „Gaffel am Dom“ und animiert Hunderte von Menschen mit Kölschen Hits wie „Viva Colonia“ und „Am Dom zo Kölle“zum Mitsingen. Etwa 70 Prozent der Zuschauer sind Einheimische, die die Cover von Gruppen wie den Höhnern und Bläck Fööss längst auswendig kennen. „Der Rest sind Touristen“, sagt Heuser. „Die schauen sich erst einmal verhalten um, während die Kölner von Anfang an voll Inbrunst mitsingen. Spätestens nach dem zweiten oder dritten Lied tauen sie dann aber langsam auf. Am Ende liegen sich meist alle in den Armen – das gemeinsame Singen hat eben auch eine soziale Komponente.“

Die erlebte der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger selbst auf einer Reise nach Israel. Am Strand des Roten Meeres saß er jeden Abend am Lagerfeuer, um mit anderen zu singen und zu musizieren. „Da kamen Palästinenser, Juden und Beduinen aus dem Sinai zusammen“, berichtet er. „Beim Singen entstand über die Grenzen hinweg eine tiefe Verbundenheit.“ Wie sie zustande kam, sagt Bossinger mit körperlichen Prozessen: „Wenn Menschen miteinander singen, atmen sie gleichzeitig – nach einer Weile fangen sogar die Herzen an, zusammen zu schwingen. Dadurch entsteht ein starkes Gemeinschaftsgefühl.“

Vor diesem Gedanken resultierten auch die Mitsing-Abende von Roland Baisch und Frank Wekenmann. Die beiden Musiker spielen geschmackvoll ausgewählte Nummern wie „Mrs. Robinson“, „Junimond“ oder House Of The Rising Sun“ – und die Zuhörer dürfen gerne einstimmen. Wie im Chor soll es bei ihnen aber nicht zugehen, sagt Baisch: „Es herrscht kein Mitsing-Zwang. Die Leute sollen sich einfach wohl fühlen. Wie bei einem Abend mit Freunden am Lagerfeuer eben.“

Der Mitsingabend„Am Lagerfeuer (Sing Sing)“ von Roland Baisch (Foto) und Frank Wekenmann findet am 23. August um 20.30 Uhr im Theaterhaus in Stuttgart statt. Im Repertoire führen die beiden Klassiker wie John Denvers „Country Roads“, Johnny Cashs „Ring Of Fire“ oder Bob Dylans „Blowin’ In The Wind“. Tickets gibt es im Internet unter: www.theaterhaus.de.

Svavar Knútur tritt wieder am 25. September um 20 Uhr im Brückenhaus in Ludwigsburg auf. Er spielt vor allem eigene Lieder, die man aber leicht mitsingen kann. Der Eintritt ist frei. Informationen unter: www.svavarknutur.com