Die Mitglieder des Vorstands der Degerlocher SPD blicken bei der Aussprache über die Lage der Partei ernst in die Runde. Foto: Cedric Rehman

Die Degerlocher SPD hat sich im Naturfreundehaus getroffen, um die Lage der Partei nach den Landtagswahlen im März zu diskutieren. Dabei wird die Identitäts- und Sinnkrise der Genossen offenbar.

Degerloch - Die Heldin der Degerlocher Sozialdemokraten heißt Susanne Neumann. Sie ist Reinigungskraft und hat jüngst dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel die Meinung gesagt. Neumann brachte Gabriel bei der Wertekonferenz der SPD in Berlin in Bedrängnis. Sie schaffte es, dass sich der Vizekanzler vor laufender Kamera von der Agenda 2010 distanzierte und sich bemüßigt fühlte, sich für die Große Koalition zu rechtfertigen. Am Ende fragte er Neumann nach einer Lösung für die Parteikrise. Sie konterte, dass Gabriel diese finden müsse. Das sei nicht Aufgabe einer Reinigungskraft.

Der Degerlocher Ortsverein der SPD sitzt im Naturfreundehaus, um die Lage der Partei nach der verlorenen Landtagswahl zu besprechen. Die Sozialdemokraten zerbrechen sich bei Weizenbier und Radler die Köpfe, wie die Partei wieder Anklang finden kann bei all den Susanne Neumanns im Bezirk, in der Stadt, im Land und im Bund.

Verbundenheit unter Genossen

Nach einer mehr als zweistündigen Debatte, in der Begriffe wie Keynesianismus fallen, ist ein SPD-Mitglied sicher, dass an diesem Abend kein neuer Wähler für die Partei gewonnen worden wäre. „Das war ein Hochschulseminar für uns selbst. Mal wieder eine typische SPD-Veranstaltung.“ Die Äußerung könnte gehässig wirken, wenn der etwas ältere Mann nicht einen Atemzug später seine Treue zur Sozialdemokratie beschwören würde. Sozialdemokraten in der Sinnkrise scheinen zumindest in Degerloch gegen Zynismus gefeit zu sein. Stattdessen zeigen sie offen, wie tief ihre sozialdemokratische Seele derzeit schmerzt. Trotz düsterer Aussichten und vielen ungelösten Fragen bleibt es an diesem Abend im Naturfreundehaus dabei so kuschelig wie unter alten Freunden. Wer etwas sagen will, hebt die Hand, und bevor er den Mund aufmacht, lässt er den anderen ausreden.

Die auf den Holzbänken versammelte Runde erscheint wie ein Querschnitt der gebeutelten SPD. Da sind in Überzahl ältere Herren. Für sie war es einmal Selbstverständlichkeit, der Gewerkschaft und der ihr nahestehenden SPD beizutreten, wie es ein Mitglied formuliert. Daneben sitzen einige Sozialdemokraten mittleren Alters. Sie müssen nur einen Namen nennen, um zu erklären, was oder vielmehr wer sie zur SPD geführt hat: Willy Brandt. Und dann gibt es noch einige wenige Junge. Sie teilen sich auf in Linke und Pragmatiker. Beide eint dabei der Jargon von Jungakademikern.

Der Wunsch nach einer moralischen Rolle

Die SPD-Stadträtin Maria Hackl ist ebenfalls zu Gast. Sie sagt: „Wir machen Politik für Leute, die uns nicht wählen.“ Die Stadträtin stellt die Erkenntnis in den Raum, ohne daraus zu folgern, die SPD solle Menschen mit niedrigerem Einkommen und wenig Perspektiven den Rücken kehren. Die Grundstimmung bei den Degerlocher Sozialdemokraten ist ohnehin eine ganz andere. Sie ist von dem Wunsch geprägt, wieder eine moralische Rolle als Fürsprecher der Schwachen einzunehmen. Es gelte, den sozialen Markenkern wiederherzustellen, heißt es allenthalben. Viele Degerlocher Genossen erwarten von ihrer Parteiführung dabei nichts Geringeres als öffentlich gezeigte Reue für die als Sündenfall empfundene Agenda 2010. Das Reizwort der Sozialdemokratie ist also immer noch eines. Vielleicht im Lichte der jüngsten Wahlniederlagen sogar mehr denn je. Nur wenige widersprechen dem Wunsch nach einem Exorzismus der Reformen Gerhard Schröders. Carsten Singer vom Ortsverein etwa rät dazu, die politische Mitte nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Argumente, die von den Degerlocher Sozialdemokraten bisweilen in emotionaler Ergriffenheit ausgetauscht werden, klingen bekannt. Beobachter könnten sich in der These bestätigt fühlen, dass die SPD in einer Art Dauerschleife mit sich selbst und ihrer Identität ringt. Ein Mann, der sich als Nichtmitglied vorstellt, meint, dass weder Vokabular noch Inhalt der SPD zeitgemäß seien. Er rät der Partei sogar dazu, sich einen neuen Namen zu suchen.