Martin Schulz genießt den Zuspruch seiner Partei. Foto: AFP

Die Sozialdemokraten liegen Martin Schulz auf dem Parteitag zu Füßen. Die Parteispitze fragt sich jetzt, wie dieser Hype bis zur Bundestagswahl konserviert werden kann

Berlin - Diese Partei kennt einfach keine Mitte. Entweder zu Tode betrübt und innerlich zerrissen, oder aber von sich selbst berauscht, bereit zum Himmelssturm. Als Martin Schulz die Halle der „Arena“ am Berliner Spreeufer betritt, in der er später zum Parteichef und offiziell auch zum Kanzlerkandidaten gekürt wird, begrüßen ihn die Delegierten wie einen Rockstar. „Gottkanzler“ nennen den 61-Jährigen inzwischen nicht nur die Internet-Freaks, er ist in der SPD eine Kultfigur geworden – mit Vollbart, Haarkranz und Brille. Die Jusos verteilen schwarze Jute-taschen mit der Aufschrift „Straight outta Würselen“ – direkt aus Würselen, dem Heimatort von Schulz. „London, New York, Paris, Würselen“, steht auf Pappschildern.

Besser geht´s nicht mehr

Eine Delegierte rechnet bei der Wahl von Schulz zum Parteivorsitzenden mit einem Ergebnis von „110 Prozent“. Und auch wenn das ein Scherz war, so scheinen mittlerweile die Genossen hier tatsächlich an Wunder dieser Art zu glauben – spätestens bei der Bundestagswahl im September. Am Ende wird Schulz mit 100 Prozent der gültigen Stimmen zum Parteichef gewählt. So was hat es noch nie gegeben. Das bedeutet aber auch: Besser geht‘s nicht mehr, nur noch schlechter. Das wissen sie an der Parteispitze, und deshalb rätseln sie schon, wie man diesen Hype bis zur Wahl verlängern kann.

Kein Zweifel, nicht nur Schulz, die gesamte SPD rüttelt wie einst Gerhard Schröder am Zaun des Kanzleramtes, die Partei wirkt wie auf Drogen, berauscht sich an 13 000 Neueintritten, an eigentlich allem. Sogar die Junge Union tut Schulz den Gefallen, den Schulz-Kult in ihrer kleinen Demo aufzunehmen. Auf der Spree schippert ein Schiff mit blauem Banner und der Spruch: „Hey #Gottkanzler, wenn Du übers Wasser laufen kannst, komm rüber.“

Gabriels Kampfansage

Neben Schulz runzelt bei diesem ungestümen Toben Sigmar Gabriel die Stirn, so wie er es immer tut, wenn er seinem Laden nicht so recht traut, was ja ziemlich oft der Fall ist. Die Skepsis weicht auch dann nicht aus seinem Blick, als Hannelore Kraft, die für die SPD Nordrhein-Westfalen im Mai verteidigen will, ihn lobt, als sei er der Mann, der die SPD wieder nach vorne gebracht hat. Na ja, in gewisser Weise stimmt das ja auch. Denn es war seine Entscheidung, der SPD seine Kandidatur zu ersparen, die den Aufschwung erst ermöglichte. Deshalb ist es für ihn ein bittersüßer Moment, als die SPD seinen Verzicht auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur bejubelt wie einen Auswärtssieg. Gabriel schüttelt den Kopf, versucht, den Applaus abzuwürgen, er kann Heuchelei auf den Tod nicht ausstehen. Dann senkt er sein Haupt, als wolle er seinen Blick vor den Kameras verbergen, als kämpfte er in dem Moment tatsächlich mit den Tränen. Aber vielleicht ist es ja auch nur der Schnupfen, der ihn plagt.

Schließlich schreitet er entschlossen zum Rednerpult, zum letzten Mal als Parteichef. „So, einmal müsst ihr noch durch“, beginnt Gabriel. Eine „melancholische Abschiedsrede“ soll das nicht werden, sagt er. Eher eine Kampfansage an die politische Konkurrenz. Für trübsinnige Gedanken sei nicht die Zeit, schließlich sei dies „der fröhlichste Übergang zu einem Parteivorsitzenden, den un-sere Partei in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat“, sagt Gabriel und daran ist durchaus was dran.

Jetzt kommt Schulz

Ein wenig Legendenbildung muss natürlich an so einem Tag des Abschieds auch sein. Und so begründet Gabriel seinen Verzicht damit, dass er nun mal als Mann der großen Koalition wahrgenommen werde, nicht aber als Signal für einen Neuanfang. Deshalb soll Schulz es richten. „Das war eine der schwersten Entscheidungen in meinem Leben, aber auch eine der richtigsten“, sagt Gabriel. Das alles ist aber nur die halbe Wahrheit. Gabriel zog auch deshalb zurück, weil er spürte, dass ihn viele von denen, die ihn jetzt wieder auf Händen tragen, im Januar nicht mehr ausstehen konnten. Und natürlich wusste er um seine Beliebtheitswerte bei den Wählern. Er war verschlissen.

Und so blieb ihm nur noch, rechtzeitig beiseitezutreten, um nach der Bundestagswahl noch eine Chance auf eine politische Zukunft zu haben. So ganz versteht Gabriel anscheinend noch immer nicht, was da in den vergangenen Wochen geschehen ist, denn seine Bilanz in der großen Koalition sei ja nun „keine so ganz schlechte“ gewesen. Aber sei’s drum. Jetzt ist er Außenminister und scheint, trotz aller Wehmut, wie befreit von einer großen Last.

Am Ende bekommt er nach sieben Jahren an der Parteispitze eine Lithografie von August Bebel, ein paar Blumen und ein paar warme Worte seines Nachfolgers mit auf den Weg. Das Bild „soll dich immer daran erinnern, dass du einer der ganz Großen“ unter den SPD-Vorsitzenden warst, sagt jener, der die Verantwortung für die Partei erbt. „Dass du deinen eigenen Ehrgeiz zurückgestellt hast, Platz für einen anderen gemacht hast, Sigmar, das ist eine besondere politische, vor allem aber eine besondere menschliche Leistung, die zeigt, was für ein besonderer Charakter du bist“, sagt Schulz. „Danke, Sigmar!“ steht auf den Videoleinwänden. Das war’s. Jetzt kommt Schulz.

Große Gefühle statt Details

Viel Neues sagt der Wunderheiler der SPD nicht in den kommenden 80 Minuten. Es soll halt gerechter zugehen in Deutschland. Aber selbst wenn Schulz lediglich so eine sozialdemokratische Selbstverständlichkeit wie kostenfreie berufliche Bildung fordert, wird applaudiert, als stelle er nichts weniger als das Paradies auf Erden in Aussicht.

Schulz wählt auch diesmal die direkte Ansprache an die Genossen und an die Wähler, setzt auf große Gefühle statt auf Details. Anders als andere Politiker will er nicht in erster Linie Journalisten oder professionellen Beobachtern gefallen und nimmt damit in Kauf, dass diese ihm seinen Mangel an konkreter Programmatik vorhalten. Er sagt ja auch selbst, dass er noch „keine abschließende programmatische Rede“ anbieten wolle. Lieber erzählt er von „unzähligen Beobachtungen“, seinem Ansatz, erst mal zuhören zu wollen, statt alles schon besser zu wissen. Seine Herkunft aus Würselen, die bescheidenen Verhältnisse dort und die Erinnerung daran, dass er wegen einer überwundenen Alkoholsucht fast schon am Ende war, sind mittlerweile schon Gassenhauer in seinem Redeprogramm.

Weil er das alles erlebt habe, wisse er, wie es zugeht am unteren Ende der Gesellschaft. Aus dieser Erzählung und seiner Kindheit an der belgischen und niederländischen Grenze leitet er alles ab: Seine Forderung nach „Respekt vor der Lebensleistung eines jeden Menschen“, seinen Appell, keinen zurückzulassen, sein Werben für umfassende kostenfreie Bildungsangebote, seine Forderung, Polizei und Feuerwehr nicht zu kurz kommen zu lassen, sein Einsatz für Europa als Bollwerk gegen Nationalismus aller Art. Dass die SPD als Regierungspartei da und dort dies in den vergangenen Jahrzehnten hätte alles schon verbessern können, ficht ihn nicht an. So als sei er nicht schon lange Mitglied des Parteivorstands, sondern Gesandter eines anderen Sterns, eines tiefroten, versteht sich.

Schulz fordert klare Haltung wie bei Schröder

Kanzlerin Angela Merkel erwähnt Schulz mit keinem Wort. So als sei sie die Herausfordernde, die sich gefälligst an ihm abzuarbeiten habe. Nur an einer Stelle kommt sie indirekt ins Spiel. Ohne sie beim Namen zu nennen, sagt er, dass man gegen Präsidenten wie Erdogan oder Trump schon auch mal von der Spitze einer Regierung aus klare Worte finden sollte. Dialog sei wichtig. Aber „ich erinnere mich an einen Kanzler, der in klaren Worten gesagt hat, was nicht geht.“ Gerhard Schröder sei das gewesen, damals, als er sich weigerte, den USA in den Irakkrieg zu folgen: „Ein deutscher Kanzler kann also durchaus eine klare Haltung zeigen“, so Schulz.

Als Schulz über Bildungschancen redet, zeigt die Regie auf der Videoleinwand einen begeisterten jungen Vater mit kleinem Kind auf dem Arm. Die Delegierten lachen, Schulz ist kurz irritiert, glaubt, er habe versehentlich Blödsinn gequasselt. Erleichtert merkt er seinen Irrtum, fragt den Vater: „Junge oder Mädchen?“ Dann fügt kurzerhand an: „Ist egal, wird aufgenommen.“