Lothar Späth starb in einem Pflegeheim Foto: Peter Petsch

Familie, Freunde, Weggefährten bangten seit längerem um ihn. Jetzt  ist Lothar Späth 78-jährig gestorben. Der Mann, der Baden-Württemberg groß gemacht hat – vom Ländle zum Land.

Stuttgart - Zwei Lothars hinterließen in Baden-Württemberg ihre Spuren. Der gleichnamige Orkan, der am zweiten Weihnachtstag 1999 wütete, und Lothar Späth, der politische Wirbelwind. Ersterer zog eine Schneise der Zerstörung, Letzterer pflügte das Land in positiver Weise um; er schaffte Platz für Neues. Baden-Württembergern, die ihn erlebten, ist er als derjenige Ministerpräsident in Erinnerung, der dem Land – und sich selbst – maximale Aufmerksamkeit verschaffte. Späth steht für Jubel, Trubel. Für goldene Jahre.

Welch ein Kontrast zu der Zeit, in die er hineingeboren geboren wurde. Knapp zwei Jahre vor Kriegsausbrauch kam Lothar Späth 1937 in Sigmaringen zur Welt. Seine Eltern waren ganz anders, als er werden sollte: streng pietistisch. Die Kinderjahre verbrachte er in Ilsfeld, die Schulzeit in Beilstein und in Heilbronn. Nach der mittleren Reife verließ er das Gymnasium und ging in den Verwaltungsdienst. Giengen an der Brenz, Bad Mergentheim und Stuttgart hießen die Stationen. Späth aber wollte nicht verwalten. Er war auf der Suche nach einem Gestaltungsdienst.

Binnen zehn Jahren stieg er vom Mitarbeiter der Finanzverwaltung zum Bürgermeister der Stadt Bietigheim auf. 1970 wechselte er als Geschäftsführer zum gewerkschaftseigenen Wohnungsunternehmen Neue Heimat – Späths erster Ausflug in die Welt der Wirtschaft, die ihn je länger, je mehr faszinierte.

Einer der größten Freigeister der Südwest-CDU

Damals saß er – 33-jährig – bereits für die CDU im Landtag. Ein Christdemokrat nicht aus Zufall, allerdings auch nicht aus tiefster Überzeugung. Der Publizist Robert Leicht sah in Späth einen Vertreter der „skeptischen Generation“. Mit diesem Begriff hatte der Soziologe Helmut Schelsky die Jugendlichen der Nachkriegsjahre 1945 bis 1955 beschrieben. Typisch für sie sei das Fehlen politischer Glaubensbereitschaft – eine Folge der Nazidiktatur. Bei Späth, so Leicht, habe sich dies als „wuseliger Optimismus“ geäußert.

Tatsächlich lag ihm der politische Grundsatzstreit fern. Späth sprach weder Parteideutsch, noch fiel er durch Grundsatztreue auf. Sicher war er einer der größten Freigeister, den die Südwest-CDU je hatte. Was ihn an seiner Partei faszinierte, war ihre Gestaltungskraft. Früh kam Späth in die Lage, davon Gebrauch zu machen. 1972 rückte er an die Spitze der CDU-Landtagsfraktion; ein Sprung in die Kronprinzenrolle. Als sich nach dem unfreiwilligen Rücktritt Hans Filbingers 1978 die Frage stellte, zu welchem CDU-Manne das Ministerpräsidentenamt kommt – zu Späth, inzwischen Innenminister, oder zu dem nicht minder begabten Manfred Rommel – zögerte Ersterer nicht lange und setzte sich durch. Eine wegweisende Stunde: Späth bewegte fortan das Land, Rommel später und länger die Landeshauptstadt.

Der junge Ministerpräsident– gerade mal 40 Jahre alt – war in vielem ein Gegenentwurf zu seinem Vorgänger: agil, unkonventionell, liberal. Eines jedoch hatte er mit Filbinger gemein: die Popularität. Wer drei Landtagswahlen hintereinander mit absoluter Mehrheit gewinnt, muss einen besonderen Draht zu den Menschen haben. Rommel, der ihm darin verwandt war, bemerkte treffend: „Späth mag d’Leut, und d’Leut möget dr Späth.“

High Tech, High Culture

Als Ministerpräsident konnte Späth auf dem aufbauen, was Filbinger mit seiner Gemeinde- und Kommunalreform geschaffen hatte – ein gut geordnetes Land. Er selbst sah sich als Förderer des boomenden Wirtschafts- und Kulturstandorts Baden-Württemberg. Durch den Südwesten wehte der Wind der Globalisierung, und Späth, der wie kein zweiter Landespolitiker Dynamik und Weltläufigkeit verkörperte, blies aus vollen Backen mit. High Tech, High Culture – das war die Welt des schwäbischen Selfmade-Manns, den man anerkennend „das Cleverle“ nannte.

Viele Beschreibungen treffen auf ihn zu: Tausendsassa, Gründergeist, Fortschrittsgläubiger, Unruhestifter. Wenige Menschen hielten mit ihm Schritt. Späth vereinnahmte sein Umfeld, wie es sein ehemaliger Regierungssprecher Manfred Zach in dem Sittengemälde „Monrepos oder Die Kälte der Macht“ schilderte. Der Chef ließ sich nicht bremsen. „Wenn der Lothar Späth etwas gewollt hat, dann ist ihm alles egal gewesen“, sagte Rommel 1996 bei einem gemeinsamen, denkwürdigen Auftritt mit Späth beim Treffpunkt Foyer unserer Zeitung. Kein anderer Politiker war dort übrigens häufiger zu Gast: 13-mal stand Späth bei dieser Veranstaltungsreihe auf der Bühne. Das erste Mal 1978, zuletzt vor der Landtagswahl 2011.

Späth konnte sein Gegenüber schwindlig reden – was nur wenige Schwaben von sich behaupten dürfen. Mit ihm gerieten die Dinge in Bewegung, gelegentlich auch aus den Fugen. Er liebte es, Grundsteine zu legen. In seiner Regierungszeit entstanden neue Technologiezentren und Forschungsinstitute. Manchmal machte er auch nur Wirbel: In Boxberg scheiterte sein Versuch, eine Daimler-Teststrecke anzusiedeln. Der Wasserpfennig floppte.

Späth war leidenschaftlicher Skatspieler

Auch aus der anvisierten großen Landesbank wurde nichts; das sollte erst seinem Nachfolger Erwin Teufel gelingen. Späth, so stellte Rommel fest, sei wie ein Kaiser, der Zettel mit Ideen aus der fahrenden Kutsche wirft – in der Erwartung, dass sich das Gefolge um die Umsetzung kümmert. Da war was dran. An hingeworfenen Gedanken herrschte in der Ära Späth kein Mangel, an Erfolgsmeldungen gelegentlich schon. Von Erhard Eppler, dem früheren SPD-Landesvorsitzenden, stammte der Satz: „Späths Luftballons steigen laut und platzen leise.“

Womöglich zeigte sich darin auch sein Naturell als Spieler. Späth war leidenschaftlicher Skatspieler – mit seinen Amtskollegen Hans Koschnick (Bremen) und Johannes Rau (Nordrhein-Westfalen) bildete er eine unverbrüchliche Skatrunde, die sich regelmäßig donnerstags im Bonner Gästehaus der baden-württembergischen Landesvertretung traf. Späth, Koschnick und Rau waren beste Freunde, wenn auch keine Parteifreunde. Heute würde man von einem Netzwerk sprechen. Das hatte auch im politischen Alltag Bestand. Redete jemand schlecht über die beiden Sozialdemokraten, musste er damit rechnen, von Späth zurechtgewiesen zu werden. Wie weit die Männerfreundschaft reichte, zeigte sich bei der Ansiedlung des Mercedes-Werks 1978 in Bremen; wie es heißt, kam sie in enger Absprache zwischen Späth, Koschnick und dem damaligen Mercedes-Chef Werner Niefer zustande.

Auch im Land hatte Späth feste Skatbrüder – seinen Sprecher Matthias Kleinert oder den im August verstorbenen Gerhard Mayer-Vorfelder, der erst Kultus-, dann Finanzminister war. Auch Günther Oettinger, der junge Späth-Bewunderer, zählte gelegentlich dazu. Späth, so erinnert sich ein ehemaliger enger Mitarbeiter, spielte Karten, wie er Politik machte: im Stile eines Hasardeurs, cool bis unter die nach hinten gekämmten Haarspitzen. Verlieren lag ihm nicht. Beim Skat konnte Späth vergessen machen, wenn er überreizte. In der Bundespolitik gelang ihm das nicht.

Rauswurf aus dem Präsidium

Ein einschneidendes Erlebnis war der Bremer CDU-Bundesparteitag im September 1989. Der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler hatte Späth dazu auserkoren, Helmut Kohl von der Parteispitze zu verdrängen. Der Versuch scheiterte kläglich. Späth flog aus dem Präsidium. Bald darauf wurde Kohl zum umjubelten Kanzler der Einheit. Das „Cleverle“ war entzaubert, und die medialen Meinungsführer wendeten sich von ihm ab.

Das war der Anfang vom Ende seiner zwölfeinhalbjährigen Regierungszeit, während der er in der Ministerpräsidenten-Villa auf der Solitude wohnte und die er rückblickend als „die Wohlfühlphase meines Lebens“ bezeichnete. Sie endete am 13. Januar 1991, nachdem zahlreiche Reisen auf Kosten befreundeter Unternehmer ruchbar wurden, darunter ein Segeltrip in der Ägäis. Späth trat von allen Ämtern zurück – nicht aus Unrechtsbewusstsein, sondern wegen fehlenden Rückhalts in der Partei. Die Vorwürfe hatten kein rechtliches Gewicht; die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen ihn ein. Späth selbst versicherte stets, er habe sich nie bestechen lassen. Dennoch musste er sich vorhalten lassen, den bösen Schein nicht vermieden zu haben.

Es war eine Zäsur. Späth wechselte den Beruf und das Bundesland. Er ging in die Wirtschaft. Von der Treuhand und dem Land Thüringen mit umgerechnet 1,8 Milliarden Euro ausgestattet, machte er sich an die Sanierung des ehemaligen DDR-Kombinats Carl Zeiss Jena in Thüringen. Gestalten bedeutete in diesem Fall erst einmal, radikal Stellen abzubauen: Mehr als 16 000 Zeissianern wurde gekündigt; mit rund 10 000 Mitarbeitern startete der schwäbische Vorstandsvorsitzende in die neue Zeit. Rückschläge und Fehlgriffe blieben nicht aus, unter dem Strich aber reüssierte der Manager Späth. 1998 brachte er den runderneuerten Technologiekonzern Jenoptik an die Börse.

Die Verkörperung des Quirligen

Daneben baute er – hierzulande wenig beachtet – eine komplette Stadt um. Jena wurde zu Späths kleinem Baden-Württemberg. Die Spuren, die er dort hinterließ, waren nicht kleiner als die im Südwesten. Die Firmenzentrale wurde im Jenaer Volksmund „Empire Späth Building“ genannt. Ein journalistischer Beobachter jener Jahre, Thomas Wüpper, würdigte Späths Arbeit als „eine für den Aufbau Ost einmalige Erfolgsgeschichte“. Späth stehe wie kein anderer dafür, „dass in Jena nach der Wende kaum ein Stein auf dem anderen blieb und die Stadt aus den Trümmern des alles bestimmenden Zeiss-Kombinats zu einem der wichtigsten Wirtschaftsstandorte der neuen Länder aufstieg“.

2003 zog er sich vom Vorstandsposten zurück. Die aktive Ära Späth in Jena war vorbei; sie währte fast genauso lang wie die Ära Späth in Stuttgart – etwa zwölf Jahre. Einige Monate zuvor hatte Späth sich von Unionsspitzenkandidat Edmund Stoiber überreden lassen, im Falle eines Sieges bei der Bundestagswahl 2002 als Superminister für Arbeit und Finanzen zur Verfügung zu stehen. Stoiber verlor die Wahl, Späth verlor nichts, er gewann Spielraum. 2005, inzwischen 67, wurde er Deutschland-Chef der amerikanischen Investmentbank Merril Lynch. 200 Mitarbeiter, Jahresumsatz: eine Milliarde Euro. Man könnte sich einen sanfteren Übergang ins Rentenalter und ins Privatleben vorstellen.

Dort kam der zweifache Familienvater jedoch nie an. Sein Naturell und die vielen Nebenjobs standen dagegen: An der Seite des Linken Gregor Gysi moderierte er eine TV-Talkshow („Späth am Abend“). Dazu kamen Kolumnen, Vorträge, sein lebenslanges Faible für die Kunst, sein soziales Engagement zugunsten der Kinderhilfsaktion Herzenssache und für Menschen mit Behinderung. Das Leben im Scheinwerferlicht hatte seinen Preis. Nach 51 Ehejahren zog seine Frau Ursula aus dem gemeinsamen Haus in Gerlingen aus.

Auch jenseits der 70 erinnerte Späth an eine Aufziehfigur. Er schien unverwüstlich. Irgendwann jedoch, nach seinem 75. Geburtstag, war die Feder überdreht. Späth funktionierte nicht mehr. Der Technikfan, der Vollgastyp, die Verkörperung des Quirligen, nahm greisenhafte Züge an. Langsam, aber unaufhaltsam entglitt ihm das Leben. Um Späth wurde es dunkel und still. Am Ende war der große Gestalter – welch bittere Ironie – ein Pflegefall. In Erinnerung bleibt er als das ewige Cleverle.