Als „Übungsgeisel“ lernen Entwicklungshelfer auf einem Bundeswehrgelände in der Rhön, wie sie sich im Ernstfall in Extremsituationen verhalten sollen Foto: World Vision

Menschen in Not zu helfen wird immer gefährlicher. Alleine im Jahr 2012 wurden 67 Entwicklungshelfer bei Anschlägen getötet, 92 entführt. Um das Leben ihrer Mitarbeiter besser zu schützen, üben Hilfsorganisationen auf einem Truppenübungsplatz der Bundeswehr in Wildflecken. Ein Trainingsbesuch.

Wildflecken - „Wenn du mich noch einmal anguckst, steche ich dir die Augen aus“, brüllt der Typ mit dem riesigen Messer in der Hand. Neben ihm stehen zwei Maskierte und richten ihre Kalaschnikows auf den schlaksigen Mann. Kurz darauf unterschreibt er ein Geständnis, dass seine Kollegen an Massenvergewaltigungen beteiligt waren. Er ist in der Gewalt von Rebellen in Ganton. Das fiktive Bürgerkriegsland befindet sich auf dem Gelände der Bundeswehrkaserne Wildflecken in der Rhön. Zusammen mit Mitarbeitern der Hilfsorganisation World Vision bereitet sich der junge Mann hier auf Einsätze in Kriegs- und Krisengebieten vor.

„Sie sind jetzt nicht mehr in Deutschland. Sie sind jetzt in Ganton. Hier ist es gefährlich, wir können nicht für Ihre Sicherheitgarantieren“, sagt der Soldat, kurz nachdem er die Kaserne betreten hat.

In Ganton terrorisieren skrupellose Warlords die Zivilbevölkerung, und auch Mitarbeiter der Vereinten Nationen, internationaler Hilfsorganisationen wie World Vision und Journalisten sind zur Zielscheibe geworden. Tausende sind auf der Flucht, eine Hungersnot droht. Das Szenario ist fiktiv, unrealistisch ist es nicht.

Entwicklungshelfer leben gefährlich

Insgesamt 22 Männer und 14 Frauen, die für die Hilfsorganisation World Vision unter anderem in Afghanistan, Somalia, im Ostkongo, im Südsudan und im Niger arbeiten, absolvieren das Training. Sechs Trainer und ein Psychologe sollen ihnen unter anderem beibringen, wie sie in Krisengebieten arbeiten und Geiselnahmen überleben können.

„Es bringt mir nicht Spaß, euch zu quälen, aber ich muss euch ein gutes Stück aus der Komfortzone holen, um euch für eure gefährlichen Einsätze vorzubereiten“, sagt Trainingsleiter Scott Raesler. Der muskelbepackte Kanadier mit den kurz geschorenen Haaren arbeitete als Soldat, Sicherheitsoffizier der Vereinten Nationen, Polizist und Inhaber einer eigenen Sicherheitsfirma unter anderem in Afghanistan, im Irak und im Kosovo.

Als Erstes schnüren er und seine Männer den Schülern mit Kabelbindern die Daumen zusammen und stülpen ihnen wie bei Geiselnahmen schwarze Säcke über das Gesicht. „Ich weiß, dass ich unter dem dunklen Stoff nicht ersticken werde, aber beim Einatmen legt das bald schweißnasse Tuch sich wie eine Totenmaske über mein Gesicht“, sagt einer der Teilnehmer.

Immer schneller schnappt er nach Luft. Mit ausgestreckten, gefesselten Armen kniet er auf dem harten Beton. Wie ein ehrfürchtig Betender. Wäre dies keine Simulation, dann würde er jetzt wahrscheinlich wirklich beten. Neben ihm knien World-Vision-Mitarbeiter, die tatsächlich schon einmal entführt wurden. Später werden sie von ihren Erinnerungen berichten.

Mitarbeiter von Hilfsorganisationen im Visier

Nie zuvor hat es so viele Anschläge auf Entwicklungshelfer gegeben wie im Jahr 2012 – aktuellere Zahlen liegen nicht vor. Die meisten tödlichen Zwischenfälle gab es in Afghanistan, Pakistan, im Südsudan, in Somalia und Syrien. Und der beunruhigende Trend setzt sich fort.

So wurden Anfang August im Südsudan sechs humanitäre Helfer getötet, die Vereinten Nationen zogen daraufhin einen Teil ihres Personals ab. Die Zahl der Entführungen von Entwicklungshelfern hat sich nach Angaben der internationalen Forschungsgruppe Humanitarian Outcomes in den letzten zehn Jahren vervierfacht. Rund 80 Prozent der Opfer überleben die Entführungen, viele von ihnen werden bereits nach wenigen Tagen freigelassen, doch zwei spanische Ärzte-ohne-Grenzen-Mitarbeiterinnen, die 2011 an der kenianisch-somalischen Grenze gekidnappt wurden, kamen erst nach 644 Tagen Geiselhaft frei.

„Seitdem manche bewaffnete Konfliktparteien die Mitarbeiter von Hilfsorganisation als legitime Ziele sehen, ist die Arbeit in Kriegs- und Krisenregionen schwieriger geworden. Vor allem Organisationen, die mit dem Westen und den USA in Verbindung gebracht werden, sind gefährdet“, sagt Trainingsleiter Scott Raesler. „Zuvor galten der gute Ruf und die gemeinnützige Arbeit quasi als Lebensversicherung für die Mitarbeiter. Doch mittlerweile haben World Vision und andere erkannt, das dies heute nicht mehr ausreicht, und investieren deshalb in Sicherheitstrainings“, sagt Raesler.

Rund 1400 Euro pro Person kostet der von 60 Bundeswehrsoldaten unterstützte Kurs. Der Aufwand ist groß, doch er lohnt sich, meint Psychologe Don Bosch. „Extremer Stress und Panik erschweren es, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Deshalb versuchen wir, den Teilnehmern beizubringen, auch in Gefahr die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das kann man nicht aus dem Lehrbuch, sondern nur durch die Simulation von Gefahr lernen“, sagt der Amerikaner.

Entwicklungshilfe und Überlebenstraining in Wildflecken

Um die Entwicklungshelfer unter Stress zu setzen, werden sie mit Übungshandgranaten beworfen, bei Lebensmittelverteilungen aus Pistolen, Kalaschnikows und Maschinengewehren mit Platzpatronen beschossen. Sie geraten mehrfach in Minenfelder, Hinterhalte und Kreuzfeuer, werden von aufgebrachten Einheimischen beinahe gelyncht, von Rebellen an illegalen Straßenblockaden ausgeraubt und von korrupten Grenzsoldaten erpresst. Sie lernen, sich unter Beschuss selbst einen Druckverband anzulegen, Techniken der Konfliktdeeskalation und sich mit Kompass, Karte und Überlebensrucksack alleine durchzuschlagen. Zudem müssen vor allem die Frauen im Team ständig mit sexuellen Übergriffen rechnen.

Mit verbundenen Augen knien die Entwicklungshelfer in einem feuchten Keller und müssen immer wieder die absurden Regeln der sadistischen Geiselnehmer brüllen. Nach spätestens einer Stunde sind die Stimmen heiser und gebrochen. „Mittlerweile fällt es mir leichter, meine Mitgefangenen am Gestank ihres Angstschweißes als an ihren Stimmen auseinanderzuhalten“, sagt einer der Teilnehmer. Wenn sie nicht brüllen, müssen die Teilnehmer Liegestützen und Sit-ups machen. Bis zur Erschöpfung. Als einem die verkrampften Muskeln zucken, brüllt einer der Geiselnehmer: „Hör sofort auf zu zittern!“

Im Theorie-Teil lernen die Entwicklungshelfer, im Falle einer Gruppengeiselnahme „den grauen Mann“ zu spielen. Nicht der Schwächste, nicht der Stärkste, nicht der Hysterischste, nicht der Coolste zu sein – bloß nicht auffallen, denn die „grauen Männer“ haben bei Entführungen die besten Überlebenschancen. Allerdings ist es nicht ganz einfach, „den grauen Mann“ zu spielen, wenn alle genau die gleiche Strategie verfolgen.

Die Entführer brüllen ihre Gefangenen an, quälen sie , drohen ihnen Folter an, rülpsen ihnen ins Gesicht oder pinkeln fröhlich pfeifend direkt neben ihnen. Nach wenigen Stunden endet die „Geiselhaft“ der Entwicklungshelfer. Und alle hoffen, dass es ihre einzige bleibt.