Alt-Sillenbuch ist außergewöhnlich schön. So einen historischen Flecken gibt es nirgends sonst in Stuttgart. Weitere Bilder gibt es in unserer Fotostrecke zu sehen. Foto: Sägesser

Kein historischer Ortskern in Stuttgart ist so authentisch wie der in Sillenbuch. Sieben Kulturdenkmale schmiegen sich eng an die Tuttlinger Straße; aber auch die Nachbarhäuser sind bildschön. Zu Gast in Alt-Sillenbuch.

Sillenbuch - Dieses Haus bedeutet Arbeit. Immer wenn Zeit ist, werkelt Axel Huber deshalb daran. Während sich viele seiner Altersgenossen lieber eine Parzelle am Stadtrand für ein Eigenheim nach Maß suchen, hat sich der junge Mann aus Sillenbuch anders entschieden. Sein Zuhause ist 241 Jahre alt. Axel Huber, seine Frau und die vier Kinder wohnen an der Tuttlinger Straße 97. Als das Fachwerkhaus im heute alten Ortskern Sillenbuchs erbaut worden ist, führte der Herzog Carl Eugen in Württemberg das Regiment, und Friedrich Schiller war damals 14 Jahre alt.

Zwei Familien haben sich das Haus überkreuz geteilt

Axel Huber hat in seiner Stube die historischen Balken freigelegt. Was mag sich unter ihnen schon alles zugetragen haben? Es bleibt ein Geheimnis. Die Familie Huber kennt das Haus seit nun vier Generationen. Der Urgroßvater von Axel Huber hatte die Hälfte gekauft. Manfred Huber, Axels Vater, kann sich noch gut daran erinnern, wie sich zwei Familien dieses Haus geteilt haben. Sie lebten überkreuz, kochten in einer Küche und liefen sich dauernd über den Weg. Es war das, was später WG heißen sollte. Manfred Huber und seine Frau Christel haben die Scheune hinter dem Haus abgerissen und für sich ein Zuhause gebaut. Irgendwann haben sie das ganze Anwesen übernommen. Seit der Sohn mit Familie in das historische Nachbarhaus gezogen ist, wohnen drei Generationen Tür an Tür.

Axel Hubers Tochter legt eine Murmel auf den Boden, sie rollt von der einen Ecke zur anderen. An der Tuttlinger Straße 97 ist vieles schief und verwinkelt. Axel Huber hat das Haus trotzdem nie als Last empfunden. „Man hat viel mehr Möglichkeiten“, sagt er, ein neues Haus sei einfach fertig. Er hat das verwitterte Dach ersetzt und ausgebaut, Böden verlegt, neue Fenster eingebaut. Jetzt fehlen noch die Klappläden, doch die sind teuer, weil sie maßgeschreinert sein müssen. Erstmal ist das Treppenhaus dran. Es ist eine Baustelle.

Dass Axel Huber im Renovieren so aufgeht, dürfte die Mitarbeiter der Stadt Stuttgart freuen. Es ist in ihrem Sinne, dass sich in Alt-Sillenbuch optisch so wenig wie möglich verändert. Nirgends in der Stadt gibt es einen alten Ortskern, der authentischer ist als dieser. Sieben Häuser an der Tuttlinger Straße tragen den Titel „Kulturdenkmal“.

Als wollten sie unbedingt in der ersten Reihe stehen

Aber auch um die Denkmale herum stehen bildschöne Häuser mit Scheunentoren, Sandsteinsockeln, schmalen Hofeinfahrten, Fachwerk. Die Bauten von anno dazumal schmiegen sich an die kurvige Straße, als wollten sie unbedingt in der ersten Reihe stehen. Der Spaziergänger wähnt sich in einer anderen Welt. Die Stadt arbeitet an einer Gestaltungsfibel. Sie soll Hauseigentümern erklären, worauf sie beim Neu-, An- oder Umbau zu achten haben.

Ulrike Weinbrenner wohnt in keinem der sieben Kulturdenkmale. Doch das weiße Haus an der Tuttlinger Straße 90 zählt zu den schützenswerten, denn es hat Geschichte. Der Konsum hat dort früher seine Waren verkauft, und noch früher war in dem Gebäude die erste Schule Sillenbuchs untergebracht. Die Wandtafel ist noch da, wenn auch übertüncht. Das Haus ist 1806 erbaut worden. Es knarzt, wenn Ulrike Weinbrenner von einem Raum zum anderen geht. Im einstigen Krämermarkt hat sich die 72-jährige Frau vor vielen Jahren ihr Atelier eingerichtet. Ulrike Weinbrenner restauriert, hauptsächlich Bilder.

Liebevoll, verspielt, detailgetreu

Für Ulrike Weinbrenner war das Haus eine Entscheidung. „Seit ich es habe, habe ich keinen Urlaub mehr gemacht“, sagt sie. Anfang der 1980er-Jahre hat sie es gekauft, eher aus der Not heraus. Es war die Investition ihres Lebens. Und das ist unübersehbar. Liebevoll hat sie sich eingerichtet, verspielt, detailgetreu. Wenn sie wieder mal lang gearbeitet hat, setzt sie sich auf ein Glas Wein in ihr Sommerwohnzimmer und hört dem Bienengesumm zu. Ihr Sommerwohnzimmer ist ein alter Schuppen umgewandelt in eine Art Veranda, überwuchert mit wildem Wein. Hier – mit atemberaubendem Blick übers Bußbachtal – tankt sie neue Energie.

In ihrem Empfangszimmer, in dem auch der Computer steht, ist die Decke mit Stuckrosetten und gemalten Kirschen verziert. Ulrike Weinbrenner, die Fachfrau fürs Hervorholen, hat sie repariert oder nachgebildet. Irgendwann ist die Restauration ins Stocken geraten, sie weiß nicht, wann sie weitermacht. Sie hat auch sonst genug zu tun.

Wilhelm Welch geht es ganz genauso. Als er es an der Tür klingeln hört, dauert es kurz. Durch den Briefkastenschlitz duftet es mittäglich. Wilhelm Welch erwartet niemanden, entscheidet aber spontan: „Kommen Sie rein.“ Bevor er Zeit für eine ordentliche Begrüßung hat, biegt er in das kleine Nebenzimmer ab, es ist eine Mischung aus Küche und Werkstatt. Er öffnet den Backofen, zieht die gusseiserne Bräter heraus und flucht. Er koche hier normalerweise nie, sagt er über die Schulter. Aber heute Abend hat er Besuch von einer Dame. Und die hat sich etwas Feines gewünscht. So kam also der Schweinebraten in die Röhre im alten Sillenbucher Rathaus an der Tuttlinger Straße 99.

Er produziert um das Produzierens willen

Wilhelm Welch ist pensionierter Kunstlehrer. Und in dem Künstleratelier in Alt-Sillenbuch erfüllt er sich seinen Lebenstraum. Er produziert, produziert, produziert. In erster Linie um des Produzierens willen. Lebensgroße Totenkopfschädel, Gipsrümpfe, Farbformen, Porträts von zwielichtigen und futuristischen Gestalten.

„Wenn man nichts tut, entsteht ja nichts“, sagt er und eilt ins ehemalige Bürgermeisterzimmer. Dort ist sein Hauptatelier. Während das eine Kunstwerk trocknet, macht er sich ans nächste. „Sonst würde ich ja Zeit verlieren“, sagt er. „Ich kann keine fünf Minuten still sitzen.“ Wilhelm Welch ist ein von sich selbst Getriebener. Sein Smartphone klingelt, es ist der Wecker. „Mein Braten macht mich verrückt.“ Aber er duftet köstlich.

Das frühere Rathaus gehört der Stadt Stuttgart, sie vermietet es an den Verband bildender Künstler Württemberg. Heizung gibt’s keine, und auch sonst habe er viel auf eigene Regie reingesteckt ins alte Gemäuer, erzählt Wilhelm Welch. Er habe zum Beispiel die Wände weiß gestrichen, einen Boden mit Schachbrettmuster verlegt, im Keller wäre noch etwas zu tun, „ich kann aber nicht noch einen Raum renovieren“, sagt er. Er hat sein Soll erfüllt. Auf einen roten Besenstiel gestützt schaut er aus dem Erkerfenster. „Der Einzige, der hier Geld verdient, ist der Seeger“, sagt er. Der Nachbar ist ein Getränkehändler und lädt sich gerade den Lieferwagen mit Kisten voll.

In diesen Spätsommertagen geht es noch ruhiger zu

Vom Erker aus sieht Wilhelm Welch auch zum Lieselotte-und-Manfred-Rommel-Plätzle. Dort sitzt seit längerer Zeit ein Mann, der beobachtet, was auf der Tuttlinger Straße so vor sich geht. Mutmaßlich eher wenig, denn in diesen Spätsommertagen geht es hier unten noch ruhiger zu als sonst schon. Die Weinstube Schwanen macht Betriebsferien, der Blumenladen auch. Und die Nudings, die hatten einen Wasserschaden, die Bäckerei bleibt zu. Nur der 66er-Bus schlängelt sich mit getakteter Regelmäßigkeit durch das Straßendorf.

An der Tuttlinger Straße 72 steht ein blaues Häuschen. Es soll Sillenbuchs ältestes seit dem Dreißigjährigen Krieg sein, so steht es laut Johanna Hanke in Papieren der Sillenbucher Grundschule. Man erzählt sich, dass Napoleon seine Pferde hier getränkt haben soll. Sie hat schon etliche Schulklassen beobachtet, wie sie sich vor ihrem Haus aufgestellt haben. Die Leute sind aber auch schon aus anderen Anlässen vor dem Lehmwickelhaus stehen geblieben. Das war, als sie ein ausladendes Bild an die Fassade pinseln ließ. Es ist inzwischen entfernt, das Gemäuer muss atmen, das Bild hat die Poren verstopft. Das Haus soll 1729 erbaut worden sein. So steht es auf dem Torbogen, sicher weiß es keiner.

Die Holztreppe knarzt auf Schritt und Tritt

Die Schauspielerin Johanna Hanke ist Ende der 70er-Jahre hierher gezogen. Die kleine Frau mit den schwarzen Spitzenarmstulpen kann sich genau erinnern, in welch erbärmlichen Zustand das Haus damals gewesen ist. „Es war ein kleines, graues, verfallenes Haus mit zwei Stuben, einer Küche, einer Werkstatt und einem Gewölbekeller“, sagt sie. Heute ist es ihr uriges Zuhause. Auf dem Weg in den ersten Stock knackt die Holztreppe bei jedem Schritt. Johanna Hanke liebt es, wie sich die Stimmung von Raum zu Raum verändert. „Das Haus bedient ganz verschiedene Emotionen“, sagt sie. Besonders schön ist es nachts, wenn der Mond einen fahlen Schein auf die Balken wirft. So, wie er es schon seit 285 Jahren macht.