Musiker, Schaffer, Gärtner, Träumer: Pasquale Semeraro (1949–2017) in seinem Klein-Italien in Stuttgart-Ostheim Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Vergangenen Herbst haben wir Pasquale Semeraros Geschichte erzählt, der nach 46 Jahren als Gastarbeiter nach Italien zurückkehrte. Jetzt ist Semeraro nach nur vier Monaten in Apulien gestorben. Dort war vieles anders, als er es sich erhofft hatte.

Stuttgart/San Vito - Wer Pasquale Semeraro im letzten Sommer unter seinem weißen Sonnenschirm im Stuttgarter Osten besuchte, der konnte ihm beim Träumen zuhören. Von einem großen Garten im Absatz des italienischen Stiefels. Von tiefroten Tomaten und sich schlängelnden Zucchini. Von der Trauben- und Olivenernte zusammen mit seinen Geschwistern. Von der heißen Sonne Apuliens, die den vom vielen Schaffen kaputten Knochen guttun würde. Und von Nachmittagen im Schatten der Feigen- und Maulbeerbäume, die noch sein Vater gepflanzt hatte.

Pasquale Semeraro erträumte sich ein sonnenbeschienenes Alter in seinem Heimatort San Vito dei Normanni, in das er Ende September aufbrechen sollte. Sein Gesicht wurde dabei warm und hell, und er lachte sein Lachen, das nach Italien klang, nach Dolce Vita, Musik und Rotwein. Der damals 67-Jährige war eben einer, der nie aufgehört hatte zu glauben, dass Träume wahr werden können – auch wenn er im Leben oft das Gegenteil erleben musste.

„Nichts war dort unten so, wie er es sich vorgestellt hatte“, sagt Semeraros Sohn Toni heute, ein paar Monate später. Der 36-Jährige sitzt an diesem Märzmorgen im Wohnzimmer seiner Mutter Romana Bergen in der Nähe des Ostendplatzes. Die Frühlingssonne scheint durch das Fenster und malt auf den Tisch das Versprechen auf einen dieser ersten warmen Tage im Jahr, die jedes Mal wie der Anfang von etwas Neuem erscheinen.

Der letzte Winter

Vor sechs Wochen haben der Sohn und die langjährige Lebensgefährtin erfahren, dass Pasquale Semeraro an einem Herzinfarkt gestorben ist, am 28. Januar, in einem kalten Winter, wie ihn der Süden Italiens schon länger nicht mehr erlebt hat.

Toni Bergen ist alles andere als ein Träumer. Er arbeitet im Controlling einer Logistikfirma, er ist einer, der die letzten Monate seines Vaters ohne jedes Pathos und mit dem nötigen Realismus schildern kann. Das Haus sechs Kilometer außerhalb von San Vito dei Normanni, das Pasquales Eltern in den 70er Jahren gekauft hatten, sei renovierungsbedürftiger gewesen, als der Vater geahnt habe: Kein warmes Wasser, kein Fernsehen und heizen konnte Semeraro nur mit Holz. Ein romantisch-verträumter Ort für laue Sommerabende vielleicht, aber eben keiner für kalte Tage und einsame Nächte und schon gar nicht für ein Leben im Alter, in dem ohnehin alles immer nur beschwerlicher wird.

Dazu kamen die bürokratischen Hürden bei Kranken- und Rentenversicherung. Drei Monate dauerte es, bis Pasquale Semeraro endlich seine schmale Rente aus Deutschland überwiesen bekam, sagt sein Sohn. Das Schlimmste aber war vielleicht die Einsamkeit, allein auf dem Land – einer wie Semeraro, der im Stuttgarter Kessel früher ein Leben unter vielen geführt hatte: im Kreis der Eltern und sechs Geschwister, später mit seiner eigenen kleinen Familie, als Teil der rührigen italienischen Gemeinde, als Mitglied verschiedener Vereine wie dem Bocciaclub, dem Fußballverein und den Alpini, den Veteranen der Gebirgsjägern.

Kater Charlie war in Italien nicht glücklich

Nach Apulien hatte ihn nur sein 13 Jahre alter, grauer Kater Charlie begleitet – in Stuttgart ein Freigänger und Freigeist wie sein Herrchen, in der ungewohnten Umgebung Italiens ein unglückliches ängstliches Tier, das sich nicht mehr aus dem Haus traute. Auch Semeraros drei Geschwister, die in San Vito leben, konnten dem Bruder offenbar – obwohl sie sich oft trafen – kein Gefühl von Heimat und Aufgehobensein mehr geben. „Er hat Stuttgart sehr vermisst“, sagt Romana Bergen, die dreimal die Woche mit ihrem Lebensgefährten telefoniert hat. Warum er Deutschland überhaupt verlassen hat, dass kann sie, seine Partnerin seit 1972, bis heute nicht verstehen.

Er fühle eben eine Sehnsucht nach der alten Heimat, sagte Semeraro bei jenem Besuch in seinem Stuttgarter Gärtchen vergangenen Sommer. Außerdem bräuchte die Schwester Hilfe bei der Bewirtschaftung des einen Hektar großen Grundstücks der verstorbenen Eltern, wo er umsonst wohnen könne. Und, ja, ihm sei in Deutschland auch langweilig, so Semeraro damals. Die Tage als Rentner, mit Zigaretten und Bier unter dem weißen Sonnenschirm, zogen sich dahin, das Leben war längst nicht mehr so gesellig wie früher.

Vielleicht ist sein Entschluss auch aus einer Biografie erklärbar, die schon immer von Neuanfängen und Rückschlägen geprägt war, von Ideen und Idealismus: 1967 kam der 18-jährige Semeraro als Gitarrist und Keyboarder einer Band in die Gegend von Aschaffenburg. Man hatte den Ragazzi versprochen, dass sie hier von der Musik leben könnten, sie träumten von einer Karriere wie die Beatles, die sie aus dem Kino kannten. Aber Deutschland zeigte den Jungs aus der Sonne die kalte Schulter, und Semeraro sehnte sich nach den kargen Hügeln Apuliens. Er ging zurück nach Hause.

Ein Neubeginn im Schrotthandel

Doch der Süden war in den Nachkriegsjahrzehnten das Sorgenkind Italiens, die Arbeitslosigkeit hoch. 1955 trat das deutsch-italienische Anwerbeabkommen in Kraft. Hunderttausende verließen ihr Land Richtung Norden, wo das Wirtschaftswunder blühte. Bis heute sind laut der deutschen Botschaft in Rom vier Millionen Italiener emigriert. Auch Pasquale Semeraros Vater, ein Landwirt, war 1968 darunter. Die Frau und sechs Kinder folgten, als Letzter kam 1970 Pasquale, der Älteste, nach seinem Militärdienst nach Stuttgart.

Diesmal empfing ihn die Bundesrepublik mit offenen Armen und Arbeit. Semeraro schaffte bei einem Schrotthandel und bei Daimler, fuhr für einen Baustoffhandel Lkw, spielte in der Freizeit in Bands, unter anderem im Vorprogramm von Al Bano, und übernahm eine eigene Getränkehandlung. Aber er scheiterte immer wieder auch. Sein Geschäft musste er aufgeben, eine CD floppte, er verlor Geld. In den 80er Jahren musste er noch einmal neu in einer Landschaftsbaufirma anfangen – und arbeitete am Ende als Gärtner. Es wurde seine große Leidenschaft.

Der Mann, der nach ein paar Jahren die Schule verlassen hatte, brachte sich vieles selbst aus Büchern bei. Schrieb die Namen der Pflanzen immer wieder ab, auf Deutsch, Latein, Italienisch, bis er sie kannte. In seinem Gärtchen in der Siedlung Ostheim schuf er sich ein kleines Stück Italien hinterm Haus. Mit Feigenbaum und Terrakottatöpfen, mit Zucchini und Oleander und dem weißen Sonnenschirm. Sicherlich war es vor allem die Aussicht auf ein Alter inmitten weiter, ungestümer Natur, die ihn weg aus Stuttgart ins 1500 Kilometer entfernte San Vito zog.

Das gebrochene Herz

Dass Pasquale Semeraro am 27. September 2016 tatsächlich ohne Rückflugticket in den Flieger stieg, ist aber nicht nur die Konsequenz einer ganz persönlichen Biografie. Seine Geschichte steht auch stellvertretend für die vieler Gastarbeiter, die einst aus Italien, Spanien, Griechenland oder der Türkei hierherkamen und die sich im Alter fragen, wo sie ihre letzten Jahre verbringen wollen. Und Pasquale Semeraro ist wahrscheinlich nicht der Einzige, der feststellen muss, dass die alte Heimat eine andere geworden ist. Weil man selbst ein anderer geworden ist.

Vielleicht ist es ja so, wie Romana Bergen sagt, und es wäre alles besser gekommen, wenn Pasquale Semeraro nicht in den Winter hinein aufgebrochen wäre, sondern jetzt im Frühling, wenn die Natur erwacht und die Sonne ein Versprechen durch jedes Fenster schickt.

So aber habe es dem Vater das Herz gebrochen, als im Januar auch noch Kater Charlie starb, sagt der Sohn. Er habe sich gehen lassen. Nur zehn Tage nach seinem Haustier starb Semeraro dann selbst. Zurück bleibt ein Garten voller Träume in San Vito dei Normanni – und ein sehr leerer Garten in Stuttgart.