„Abschaffen, abschaffen, abschaffen“: Dirk von Lowtzow beim Auftritt in Stuttgart. Foto: Steffen Schmid

Das Konzert der Band Tocotronic zeigt, welchen Soundtrack die Niederlage haben könnte. Und wie man als Band mit 20-jähriger Geschichte ganz unpeinlich bleibt.

Es gibt Zeiten, in denen hilft nur noch ein Lied von Tocotronic. Nicht, dass man danach besser drauf wäre. Es hilft aber, dass es anderen genau so geht. Und dass jemand das Gefühl der Hilflosigkeit, Depressionen und Existenzängste in Lieder packt. Die Hamburger Band besingt seit nunmehr 20 Jahren den Niedergang.

Es wäre so schön, wenn es auf einmal nach Erdbeere riechen würde, wie es Tocotronic in dem neuen Lied „Auf dem Pfad der Dämmerung“ besingen, ihrem Weg ins Herz der Finsternis. Im Stuttgarter LKA ist es düster. Klar. Die rund 1400 Gäste sind aber dennoch bestens gelaunt. Wenn man schon untergeht, dann mit einem Lächeln. Hat nicht schon Udo Jürgens gesungen „Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff“? Die Band um Dirk von Lowtzow, der schönes graues Haar bekommen hat, beginnt mit „Im Keller“: „Hey hey hey, ich bin jetzt alt/ Hey hey hey, bald bin ich kalt/ Im Keller wartet schon der Lohn“, singt von Lowtzow larmoyant in den langen Raum hinein. Das Lied eröffnet die aktuelle Platte, es eröffnet den Abend in Stuttgart-Wangen. Diese Konzertlokalität ist allein wegen der Treppe, die die Band hinunterkommt, perfekt: Tocotronic haben einen Hang zur großen Geste. Die Band, sie macht einen guten Job. Keine Pose, kein Faust-in-die-Luft-strecken, kein „Hallo Stuttgart“, keine Kusshand wirkt hier peinlich.

Das aktuelle Tocotronic-Album ist ein Statement. Es heißt „Wie wir leben wollen“, fordert keine Angst zu haben, keine Trauer zu tragen. Sind Tocotronic nun altersmilde? Quatsch! Sie sind immer noch die kritischen Querdenker. Bevor sie die Bühne betreten, läuft ein Werbefilm für Pro Asyl.

Einsamkeit in Hotelzimmern

Damals – Anfang der 1990er Jahre – wurde eine Schublade aufgemacht, das Etikett „Hamburger Schule“ darauf geklebt und irgendwo zwischen Blumfeld und Die Sterne befanden sich auch Tocotronic. Was sie alle einte, außer ihrer Heimat, war eine Haltung.

Egal, was Tocotronic über all die Jahre doch sangen, sie wurden gehört. 1996 war es „Die Welt kann mich nicht verstehen“, sie sangen auf dem Album „Kapitulation“ von Niederlage, Aufgabe und Verweigerung. Als drittes Lied des Abends spielen sie „Meine Freundin und ihr Freund“, die erste Single aus dem Jahr 1993 und ein rumpelnder Dreiminüter.

Ein kleines bisschen Nostalgie liegt da durchaus in der Luft, auch wenn Tocotronic vor allem Lieder von „Wie wir leben wollen“ spielen. Jan Müller am Bass, Arne Zank hinterm Schlagzeug und Rick McPhail an Gitarre und Orgel sowie Dirk von Lowtzow wissen, was ihr Publikum will. Lieder, deren Zeilen sie wunderbar als Facebook-Status verwenden können. Mit „Vulgäre Verse“ gibt es das „womöglich persönlichste Stück“, wie es von Lowtzow nennt. Es erzählt von der Einsamkeit in Hotelzimmern. Am Morgen danach veröffentlicht die Band selbst ein Foto eines grinsenden Keramikfrosches aus einem Stuttgarter Hotel und man glaubt jedes Wort.

Gegen den Erfolg

Natürlich spielen sie auch „Aber hier leben, nein danke“. Dirk von Lowtzow, der nicht mehr der olle Miesepeter ist, sondern sogar den launigen Conférencier gibt, schwäbelt ein bisschen bei der Ansage. Er kommt ja aus Freiburg, der Stadt, der er ein Lied gewidmet hat mit der schönen Zeile: „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Fahrradfahrer dieser Stadt“. Auch das spielen sie am Dienstagabend – und alle Fans singen mit.

Tocotronic sind dagegen. Gegen alles. Auch gegen Erfolg. Dass der sie einholt und dass sie auch schon etwas müde sind, merkt man bisweilen leider etwas. Mehr als zwanzig Lieder spielen Tocotronic an diesem Abend. Nicht alle mit demselben Enthusiasmus. „Hey ich hab‘ mich nie bemüht, jetzt bin ich verblüht“, singt Dirk von Lowtzow. Das Lied „Warm und Grau“ etwa ist eher öde. Das merkt man auch am Applaus. Der Zuspruch des Publikums ist nicht immer sehr laut. Natürlich mäkelt man hier auf hohem Niveau. Tocotronic sind eine tolle Band. Punkt. Mit vielen tollen Liedern, die düster sind. „Abschaffen, abschaffen, abschaffen“, jauchzt, ächzt, säuselt Dirk von Lowtzow. Das Schlimme an der Band: Sie werden einfach immer Recht behalten. Egal, ob es 1993 oder 2013 ist.