Ein Leben ohne Stress? Bloß nicht, sagten Psychosomatiker. Denn wenn der Körper hin und wieder in Wallung gerät, tut das ihm nur gut. Wichtig sind aber auch die darauffolgenden Erholungsphasen Foto: dpa

Es sind Ferien, Zeit, sich zu entspannen. Doch wie? Viele Arbeitnehmer, so besagen Studien, sind bei zu viel Freizeit überfordert, werden sogar krank. Wie wichtig aber das Nichtstun für Körper und Seele ist, erklären Wissenschaftler.

Erlangen/Ulm - Die Entspannung dauert fünf Tage. Es gibt keinen Computer, kein Internet, nicht mal das Handy hat in diesem abgelegenen Flecken in Oberbayern Empfang. Es gibt nur eine Aufgabe – und die lautet, alles in Zeitlupe zu erledigen. Das Aufstehen, das Essen, der Gang zur Toilette: Alles geschieht extrem langsam. „Für stressbelastete Menschen kann diese Erfahrung lebensrettend sein“, wirbt der amerikanische Psychologe George Pennington für sein Zeitlupen-Seminar in Lenzwald.

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Nicht jeder bietet sie so wortwörtlich an wie Pennington, der in Heidelberg studiert hat. Manche fahren zur Ayurveda-Kur irgendwo an den Rand des Himalaja, andere zum Strandurlaub ans Mittelmeer. Und doch erhoffen sie sich stets dasselbe: Einfach mal abschalten zu können. So lautet die häufigste Antwort der Deutschen auf die Frage, was sie von ihrem Urlaub erwarten.

Das erscheint auch dringend notwendig – angesichts der Vielzahl an Studien, die allein in den vergangenen zwei Jahren von den Krankenkassen zur Stresslage der Nation veröffentlicht wurden. Die Hälfte der Arbeitnehmer in Deutschland klagt darüber, dass sie mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen müssen. Dass sie unter Termin- und Leistungsdruck stehen. Dass sie bei ihrer Arbeit ständig gestört und unterbrochen werden. Der Stress ist allgegenwärtig.

Stress kann Leben rettet

Dabei ist Stress eigentlich nicht das Problem, wenden Psychosomatiker ein. Schon in der Steinzeit gab es Stress – und dieser rettete dem Menschen oft genug das Leben. In Stresssituationen setzt der Körper Kortisol frei. Das Hormon hemmt Entzündungen und macht den Körper kampfbereit. „Es tut jedem nur gut, wenn er hin und wieder in eine stressige Situation gerät“, sagt der Experte Harald Gündel von der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. Anschließend ist der Mensch allerdings „reif für die Insel“, wie Gündel die Nischen nennt, die der Mensch zum Entspannen braucht. Fehlt eine solche Erholungsphase, leidet der Körper an chronischem Stress. Der Kortisolspiegel ist dauerhaft zu hoch, das Immunsystem spielt verrückt. Es kommt zu Kreislauferkrankungen, Autoimmunkrankheiten sowie Depressionen und sogar zur Demenz.

Ein besseres Plädoyer für den Urlaub kann es eigentlich nicht geben. Doch wer die Urlauber nach ihrer Rückkehr fragt, wie es denn war, merkt schnell: Es ist gar nicht so einfach, mal gar nichts zu tun. So zeigt eine Erhebung der Krankenkasse DAK von 2013, dass nahezu jeder fünfte Arbeitnehmer zwischen 30 und 44 Jahren in den Ferien nicht richtig abschalten konnte. Der Stress ist geblieben, obwohl der Auslöser namens Arbeit doch verschwunden ist, sagt der Psychosomatiker Gündel.

Für viele bedeutet Urlaub nicht unbedingt freie Zeit, sagt Andrea Abele-Brehm. Die Professorin leitet den Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der Universität Erlangen und bestätigt, dass das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, sehr verbreitet ist – ungeachtet der Menge an Freizeit, die vielen tatsächlich zur Verfügung steht. Ungeachtet auch der Tatsache, dass keiner Stresssymptomen gegenüber machtlos ist. „Oft können wir das selbst beeinflussen“, sagt Abele-Brehm. Man müsse nur besser in sich hineinhören, sich daran erinnern, was einem früher gut tat und dies wieder reaktivieren.

Viele Arbeitnehmer werden im Urlaub plötzlich krank

Vielleicht kommt dann die Erkenntnis, dass die Wissenschaftler an der Uni Freiburg Recht hatten, als sie im Zuge ihrer Forschung zum Nichtstun schrieben, dass Stress kein Naturgesetz sei. Stress ist der Preis, den der Mensch für die Gesellschaftsform bezahlt, die derzeit sein Leben bestimmt. Eigentlich weiß jeder ganz genau, was ihm nicht guttut: Es strengt an, dass die Arbeit das Leben vereinnahmt. Es strengt aber auch an, die Freizeit mit Ablenkung zu verbringen – statt als freie Zeit, warnen die Freiburger Forscher.

Das war früher anders, als es noch den geregelten Feierabend gab. Da konnte man zur Ruhe kommen. „Doch dieses Mußegefühl tritt heute seltener ein, weil jeder ständig glaubt, er müsse noch was tun, Joggen gehen oder den Kollegen anrufen“, sagt der Ulmer Psychosomatiker Harald Gündel. Hinzu kommt eine Entgrenzung der Arbeitszeiten: E-Mails und Facebook-Posts kennen keinen Feierabend.

Dabei könnte es so einfach sein. Ein Griff, ein Knopfdruck. Das Smartphone wäre aus. Man könnte sich dem süßen Nichtstun hingeben. Wenn nicht diese Schmerzen wären – wie bei einer Migräne oder einer Grippe. Leisure Sickness – zu deutsch Freizeitkrankheit – heißt das Syndrom, das laut Experten vor allem Menschen mit hohem Arbeitspensum und ausgeprägtem Verantwortungsgefühl betrifft. Schätzungen zufolge sind jedes Jahr 250 000 Bundesbürger betroffen. Während viele bei chronischem Stress krank werden, ist es bei den Freizeitkranken die plötzliche Entlastung, die sie anfällig für Krankheiten werden lässt. „Sie sind im Alltag gegen den Stress gut gewappnet“, sagt Gündel, der als Ärztlicher Direktor der psychosomatischen Klinik in Ulm Betroffene kennt. Doch im Urlaub legt dann ihr Körper die Rüstung ab.

Der Körper muss darauf trainiert werden, sich zu entspannen

Wer dem entgehen will, braucht Willensstärke, sagt Andrea Abele-Brehm, Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Und Durchhaltevermögen: „Viele machen den Fehler, sich im Urlaub zunächst keine Ruhe zu gönnen.“ Gleich am ersten Tag rasen sie an den Ferienort oder ärgern sich über Staus. Der Körper muss sich auf Neues einstellen, der Geist ebenfalls. Der Stress bleibt. Anfahrt, Zeitverschiebungen und Klimaveränderungen belasten den Körper. Wer dann glaubt, auf Knopfdruck entspannen zu müssen, überfordert sich, warnt Gündel. „Der Organismus hat sich daran gewöhnt, stets 120 Prozent leisten zu müssen.“ Umso schwieriger sei es für das vegetative Nervensystem von einem Tag auf den anderen die Regenerierungsphase einzuleiten.

Muße gewinnt aber nur, wer nein sagt, wenn es zu viel wird. Der Körper muss wieder darauf trainiert werden, sich zu entspannen. Möglichst schon während der Arbeitszeit. Andrea Abele-Brehm empfiehlt die Methode der kleinen Schritte. Dabei baut man bewusst kleine Pausen in den Alltag ein, etwa einen Spaziergang in der Mittagspause oder einen Fernsehabend. Erlaubt ist, was gut tut. Nach und nach setze sich dann ein Prozess in Gang: Die kleinen Pausen werden wichtiger, der Stress unwichtiger.

Nicht erst im Urlaub soll der Mensch also entspannen, sondern schon im Alltag. Das klappt laut einer Forsa-Studie im Auftrag des Magazins „Geo“ am besten in der Natur. Auch Spazierengehen und Musikhören sind geeignet. Erstaunlicherweise kann fast jeder Sechste auch während der Arbeit abschalten. Besonders gut gelingt das den Älteren. Bei den 50- bis 69-Jährigen sagt nämlich schon jeder Fünfte: Entspannen kann ich bei der Arbeit.