In dem viel beachteten deutschen Spielfilm „Vincent will Meer“ wird das Tourettesyndrom thematisiert, an dem Vincent erkrankt ist. Foto: Verleih

Aus ungewöhnlichem Verhalten im Kindesalter kann sich das Tourettesyndrom entwickeln.

Stuttgart - Der junge Mann zuckt immer wieder mit dem Kopf nach rechts, bewegt unwillkürlich die Schultern und stößt kurze Klicklaute aus. Er leidet unter dem Tourettesyndrom, einer extremen Ausprägung von Tic-Störungen. Sein Auftreten in einer TV-Talkshow macht für viele Zuschauer die Krankheit erstmals sichtbar. Tic-Störungen – nach dem französischen Wort „tic“ für Zucken – sind ein typisches Phänomen im Kindesalter. „90 Prozent der Störungen treten vor dem zwölften Lebensjahr auf“, sagt der Münchner Kinder- und Jugendmediziner Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Am Anfang des Schulalters zeigen etwa acht Prozent, später sogar zwölf Prozent aller Kinder Tics.“

Jungen sind drei- bis viermal häufiger betroffen als Mädchen. Motorische Tics äußern sich in plötzlich einsetzenden, nicht vom Willen gesteuerten, abrupt kurzen Bewegungen: Stirnrunzeln, Hochziehen der Augenbraue, Schulterzucken, Klatschen, Kopfschütteln, Zunge rausstrecken und vieles andere mehr. Bei den vokalen Tics produzieren die Kinder Laute und Geräusche: Sie schnüffeln, grunzen, schnalzen, klicken, schreien oder bellen – auch hier gibt es alles, was vorstellbar ist. Motorische Tics sind häufiger als vokale Tics. Allen gemeinsam ist, dass man sie kaum oder nur kurz unterdrücken kann. Dies ist vergleichbar mit Schluckauf oder dem plötzlichen Drang zum Niesen.

Viele Tic-Störungen hören von selbst auf

Viele der Tic-Störungen hören genauso plötzlich auf, wie sie gekommen sind: „Die meisten Tics sind vorübergehend und dauern zwei, drei oder vier Monate“, erklärt Veit Roessner, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Dresden. „Erst wenn die Tics länger als ein Jahr andauern, sprechen wir von chronischen Tics. Dies betrifft etwa drei bis vier Prozent der ursprünglich Betroffenen. Und nur ein Prozent dieser Kinder und Jugendlichen entwickelt das Tourettesyndrom.“

Diese nach dem französischen Arzt Gilles de la Tourette benannte Krankheit verläuft deutlich ungünstiger als die vorübergehenden Tic-Störungen. Bei dieser extremen Form werden meist mehrere Bewegungstics mit mindestens einem vokalen Tic kombiniert. Mitunter werden auch obszöne oder aggressive Wörter ausgestoßen. Auch das Tourettesyndrom beginnt im Kindes- oder Jugendalter und kann ein Leben lang bestehen bleiben.

Dabei lässt sich nicht vorhersagen, ob die Tics der Kindheit wieder verschwinden oder ob sich daraus ein Tourettesyndrom entwickelt. „Es gibt in den frühen Stadien keine Anhaltspunkte, wie der Verlauf sein wird“, sagt Veit Roessner. Die Stärke der Tics sei nicht immer gleich. In stressigen Zeiten träten sie gehäuft und verstärkt auf, während es dann wieder ruhigere Phasen gäbe. „40 Prozent der Betroffenen haben auch Tics im Schlaf, wie man heute weiß. Dadurch schlafen sie schlecht und sind am Tag müde und unkonzentriert. Dies wiederum führt zu mehr Tics.“

Unbekannte Ursachen

Schon lange wird nach der Ursache der Erkrankung geforscht, bisher aber ohne großen Durchbruch. Offenbar gibt es eine genetische Komponente, denn 50 bis 70 Prozent der Menschen mit mehrfachen Tics oder mit Tourettesyndrom kennen die Tic-Störungen aus ihrer Verwandtschaft. Es werden wohl mehrere Gene und weitere Risikofaktoren beteiligt sein. Auch gab es die Vermutung, dass bestimmte Bakterien die Krankheit aufflammen lassen. Diese Bakterien sind beispielsweise für Scharlach und viele Mittelohrentzündungen im Kindesalter verantwortlich. Die zeitliche Nähe zwischen einer solchen Entzündung und dem erstmaligen Auftreten der Tics sahen manche Forscher als Hinweis dafür, dass zwischen beiden ein Zusammenhang bestehe.

In der groß angelegten, mehrjährigen multizentrischen Studie EMTICS, die 2011 gestartet wurde, sollte unter anderem diese Hypothese näher untersucht werden. Die Studie läuft in diesem Jahr aus, aber schon jetzt scheint klar zu sein, dass keine Klarheit herrscht: „Leider gibt es keine brauchbaren Ergebnisse bei der EMTICS-Studie in Bezug auf Streptokokken“, meint der Kinder- und Jugendpsychiater Roessner.

Gestörtes Gleichgewicht

Offenbar ist ein gestörtes Gleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn für die Tic-Störungen verantwortlich. Dopamin, das für die Weiterleitung von Reizen zuständig ist, gewinnt die Überhand im Vergleich zu dämpfenden Stoffen wie dem Serotonin. Aber auch andere Botenstoffe scheinen eine Rolle zu spielen. Die Störungen manifestieren sich in den Basalganglien, einer Gehirnregion, die eine Art Filterfunktion bei der Umsetzung von Impulsen hat. Für diese Hypothese spricht, dass sich selbst schwere Fälle des Tourettesyndroms mit Medikamenten lindern lassen, die auf die Dopamin-Andockstellen wirken.

Nach wie vor gibt es keine Behandlungsmethode, die zu einer Heilung ausgeprägter Tic-Störungen oder des Tourettesyndroms führt. Die zur Verfügung stehenden Medikamente schlagen nicht bei allen Patienten an und bewirken auch lediglich eine Linderung der Beschwerden, außerdem haben sie oft beachtliche Nebenwirkungen. Operative Verfahren wie die tiefe Hirnstimulation gelten noch immer als Ausnahmebehandlung und werden nur selten und in schweren Fällen durchgeführt.

Frühe Diagnose hilft

Veit Roessner plädiert für eine frühe Diagnose der Erkrankung, was bedeutet, dass Kinder mit Tics einem Kinder- und Jugendpsychiater vorgestellt werden sollten. „Viele der Betroffenen haben auch andere Krankheiten wie ADHS oder Zwangsstörungen. Dies sind die größeren Probleme. Die beeinträchtigen die Kinder deutlich mehr als die Tics.“ Eine medikamentöse Behandlung empfiehlt er erst dann, wenn die Auswirkungen der Tics schwerwiegend sind. So gibt es Kinder, deren Tic darin besteht, dauernd die Augen nach oben zu verdrehen. „Das gibt dann Schwierigkeiten beim Lesenlernen“, erklärt er. „Wenn der Patient mit den Medikamenten gut eingestellt ist, sind die Nebenwirkungen relativ gering.“

Eine weitere Behandlungsmöglichkeit sind zwei Formen der Psychotherapie. Ab etwa dem zehnten Lebensjahr berichten Betroffene von einem gewissen Vorgefühl, das den Tics vorausgeht. Dieses Frühwarnsystem kann genutzt werden, um eine motorische Gegenantwort auf den Tic zu trainieren. Wenn etwa der Tic darin besteht, den Mund aufzureißen, wird geübt, beim entsprechenden Vorgefühl die Lippen zusammenzupressen, so dass der Tic nicht ausgeführt werden kann. Bei der anderen Variante wird trainiert, dieses Vorgefühl auszuhalten, ohne dem Druck nachzugeben, den Tic zu realisieren. Die einfachen Tics im Kindesalter müssen meist nicht behandelt werden, da sie von allein verschwinden. Ermahnungen der Eltern nützen wenig und verunsichern nur das Kind. Abwarten ist die beste Strategie.

Die Krankheit und ihre Folgen

Leidensdruck
Kinder versuchen oft, ihre Tics in der Schule und bei Freunden zu unterdrücken. In der entspannten häuslichen Umgebung treten sie dann vermehrt und ausgeprägter auf. Viele Betroffene ziehen sich auch zurück, da die Umwelt häufig mit Spott und Ablehnung reagiert. Der psychische Leidensdruck ist mitunter groß. Die Diagnose bedeutet manchmal bereits eine Entlastung für die Kinder und ihre Familien.

Beratung
„Besonders wichtig neben der fachärztlichen Betreuung der Betroffenen und der Linderung ihrer störenden Symptome ist die gründliche Beratung der Patienten und ihrer Familien“, betont der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Berthold Koletzko. Dabei betont der Experte, dass auch Erzieher, Lehrer und eventuell Mitschüler über die Art der Erkrankung aufgeklärt werden sollten. So könne man am besten einer Stigmatisierung der Tourette-Patienten entgegenwirken.

Ausgleich
Kindern mit einem Tourettesyndrom muss in der Schule gegebenenfalls ein Nachteilsausgleich gewährt werden. Auf einen entsprechenden Antrag hin kann das Versorgungsamt das Tourettesyndrom als Schwerbehinderung (50 bis 80 Grad der Behinderung) anerkennen. Weitere Infos unter www.tourette-gesellschaft.de.