Schein und Sein: „Bushaltestelle“ auf dem Dach des Pflegeheims für Demenzkranke in Filderstadt-Bernhausen. Foto: Leif Piechowski

Bei ihrer täglichen Arbeit mit an Altersdemenz erkrankten Menschen setzen Seniorenheime auf besondere Plätze zur Kommunikation. Im Pflegestift der Ludwigsburger Karlshöhe gibt es jetzt etwa ein nachgebautes Zugabteil als Rückzugsort in die eigene Erinnerung.

Bei ihrer täglichen Arbeit mit an Altersdemenz erkrankten Menschen setzen Seniorenheime auf besondere Plätze zur Kommunikation. Im Pflegestift der Ludwigsburger Karlshöhe gibt es jetzt etwa ein nachgebautes Zugabteil als Rückzugsort in die eigene Erinnerung.

Stuttgart - Die Szenerie im ersten Stock des Pflegeheims am Ludwigsburger Salonwald wirkt reichlich kurios: Hinter einer Glastüre am Ende des Flurs sind zwei original ICE-Doppelsitze aus einem Erste-Klasse-Abteil in den Fußboden geschraubt. Ein hölzerner Klapptisch und kleine Schildchen mit Werbung und Fahrgastinfos an der Wand lassen so etwas wie Bahnatmosphäre aufkommen. Bitte einsteigen im neuen Zugabteil der Karlshöhe – einem bundesweit wohl einmaligen Kommunikationsort für an Altersdemenz leidende Senioren.

Statt der am Zugfenster vorbeiziehenden Landschaft gibt es im Pflegeheim einen Fernseher. Ein Video von einer Bahnfahrt entlang der Mosel flimmert am Dienstag über den Monitor. Der virtuelle Blick aus dem Führerstand des ICE soll den Patienten auf der Karlshöhe helfen, sich an Bilder längst vergangener Tage zu erinnern. An die Reise zur Hochzeit der Tochter vielleicht. Oder an die Bahnfahrt zu den Enkelkindern. „Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell unsere Bewohner das Angebot angenommen haben. Die sitzen wirklich gern hier drin“, berichtet Pflegekraft Kerstin Roozbahani. Aus Erfahrung weiß sie, dass sich auch an Alzheimer erkrankte Menschen noch gut an Musikstücke ihrer Jugendzeit erinnern. Aber auch das Rascheln von Butterbrotpapier kann fröhliche Stimmung auslösen.

Diese emotionalen Momente will Peter Peters für die Erinnerungsarbeit nutzen. Der frühere Marketingdirektor von Alcatel hat Altersdemenz bei einem inzwischen verstorbenen Freund erlebt – und stieß in der Schweiz auf die Idee, mit dem Bahnabteil das Schicksal der Betroffenen zu lindern. Abspielen können Besucher per Monitor nämlich auch Videos vom Strandurlaub oder Aufnahmen von Familienfesten – im Kampf gegen das Vergessen können private Erlebnisse bei den Senioren vielleicht auch ein Stück Erinnerung ans Tageslicht holen. „Wer helfen will, bringt der Oma beim Besuch im Pflegeheim statt Blumen oder Pralinen ein Video mit“, betont Peters.

Bei seinem 75.Geburtstag am Donnerstag will der im Ludwigsburger Lions-Club Favorite engagierte Peters unter den Gästen für das 20 000-Euro-Projekt sammeln. Eingerichtet wurde das Bahnabteil bereits vor dem Wiegenfest – auch weil die Deutsche Bahn die zwei ausrangierten ICE-Sessel stiftete, ein Ludwigsburger Malermeister den Raum richtete und ein Fernsehfachmann die Technik sponserte. Bei Sebastian Köbbert, Leiter der Altenhilfe auf der Karlshöhe, rannte der rüstige Ruheständler mit seiner Idee offene Türen ein. Denn auch in der Region Stuttgart überlegen immer mehr Pflegeheime, wie der wachsenden Zahl der an Altersdemenz erkrankten Senioren im Betreuungsbetrieb sinnvoll zu helfen ist.

Im Pflegeheim Casa Medici in Filderstadt hat nicht nur Vize-Heimleiterin Malvine Weber gute Erfahrungen mit der vor Jahren eingerichteten „Bushaltestelle“ auf der Dachterrasse gemacht. Auch Pflegedienstchef Joseph Omanga lobt die Wartestation. Was auf den ersten Blick wie ein Scherz auf Kosten der Demenzkranken anmutet, hat sich zum Treffpunkt für intensive Gespräche gemausert. „Die Sehnsucht, nach Hause zu wollen, ist bei den Menschen einfach da“, erklärt Omanga. Auch wenn auf dem Dach des Seniorenstifts nie wirklich ein Bus kommt, hilft schon das Gefühl, aufgebrochen zu sein. Positiver Nebeneffekt: Die Zahl der Patienten, die nach einer realen Flucht hilflos über die Filder irren, hat sich seit der Einrichtung der Haltestelle deutlich reduziert.

Vorbild für innovative therapeutische Projekte ist das Modelldorf De Hogewey in Holland, in dem an Alzheimer erkrankte Bewohner an den Teich spazieren oder zum Friseur gehen können, ohne ihren geschützten Bereich zu verlassen. In Alzey in Rheinland-Pfalz ist ein ähnliches Projekt geplant. Allerdings üben Experten auch Kritik an dem Trend, betroffene Patienten in einer falschen Realität leben zu lassen. „Die sind nicht bescheuert“, klagte Pflegeheimleiter Michael Schmieder aus der Schweiz erst jüngst im „Spiegel“ über die Entwicklung mit virtuellem Zugabteil und Bushaltestelle.

Eine Bank mit einem Schild der Ludwigsburger Verkehrslinien hat freilich auch die Karlshöhe längst auf jedem Stockwerk installiert – in der Nähe des für Patienten geschlossenen Ausgangs. „Pflegepersonal und Angehörige haben sehr schnell gemerkt, wie beruhigend der Schein wirkt. Die Wartebank ist einer der besten Kommunikationsorte“, bestätigt Altenhilfe-Chef Köbbert.