Im neuen Stück „Pass-Worte“ von Lokstoff wird die Tragödie vieler Flüchtlinge greifbar. Junge Vertriebene erzählen eine wahre Geschichte über Flucht, Schlepper und Todesangst.

Stuttgart - Sterben oder fliehen? Belal hat die Wahl und flieht. Er verlässt alles, was ihm lieb und teuer ist: Familie, Freunde, Schule. Als die Taliban ihm mit dem Tod drohen, sagt ihm seine innere Stimme: „Du hast keine Zukunft in Afghanistan, Belal. Du kannst auf deiner Flucht sterben, aber hier bist du schon tot. Also halte dich an deine Hoffnung. Deine Hoffnung muss stärker sein als deine Angst und stärker noch als deine Traurigkeit.“

Belal ist die Symbolfigur, die für viele Vertriebene steht. Ein Schicksal von Tausenden, die sich alle gleichen. Sie alle stehen vor der Wahl: Pest oder Cholera. Ein klassisches Dilemma, das meistens in den Händen von skrupellosen Schleusern und großen Gefahren endet.

Nur wer das richtige Passwort kennt, wird verschifft

Auch Belal überlebt die Odyssee aus dem Hindukusch nach Europa nur knapp. Wie Ware wird er von einem Schlepper an den anderen weitergereicht. Das Flüchtlings-Ticket hat in diesen Fällen einen ganz simplen Namen. Die Profiteure der Not streifen durch die Lager der Flüchtlinge und spitzen die Ohren nach diesem Wort. Nur wer das richtige Passwort kennt, wird weiter verschifft. Am Passwort hängt auch Belals Leben.

Daher trägt das neue Stück des Ensembles Lokstoff diesen Titel: „Pass-Worte – Wie Belal nach Deutschland kam“.

Belals Geschichte im Theaterstück wird von Asef erzählt. Auch er flüchtete aus Afghanistan. Nicht wie sein Landsmann Belal in einem Container, aber mindestens ebenso abenteuerlich. Mit 14 Jahren ist er todesmutig aufgebrochen. Er geht 5333 Kilometer, 6 987 235 Schritte, durch vier Länder. Als Asef vom Schiff steigt, ist er in Europa. „Wo genau, weiß ich nicht“, sagt er, „Italien oder Frankreich? Keine Ahnung. Es war Nacht, als es mit dem Zug weiterging.“ Er weiß nur noch, dass er großen Hunger hatte. „Ich brauchte etwas zu essen, deshalb bin ich ausgestiegen.“

Asef steigt in Stuttgart hungrig aus dem Zug

Endstation Sehnsucht. Stuttgart Hauptbahnhof. Hier lebt Asef nun seit sechs Monaten und ist einer von sieben Hauptdarstellern, die Belals Geschichte verkörpern. Amir, Asef, Ehsan, Khanzada, Madhi, Mohammad Hassanjsdle. Sieben Flüchtlinge, sieben Leben, ein ähnliches Schicksal. „Pass-Worte soll daran erinnern, dass hinter jedem Fluchtschicksal ein Name steht“, sagt Schauspielerin Kathrin Hildebrand, die neben den realen Flüchtlingskindern als Profi auf der Bühne steht.

Wobei der Begriff Bühne bei Lokstoff ein dehnbarer Begriff ist. Lokstoff spielt seine Stücke im öffentlichen Raum. Und dieses Mal ist dieser Raum ein Container, mit dem per Schiff oder Lkw Waren um die Welt transportiert werden. „Wir haben den Container genommen, weil er noch besser die Situation mancher Flüchtlinge verdeutlicht“, sagt Hildebrand. Die beklemmende Enge, die Dunkelheit und die Hitze in diesem Stahlgefängnis lassen den Zuschauer spüren: So fühlt sich Flucht an.

Perspektivwechsel ist das Zauberwort bei „Pass-Worte“. „Indem wir uns auf die Suche nach dem anderen machen, begegnen wir auch uns selbst“, heißt es in dem Klappentext des Stücks. Dabei sind vor allem Stuttgarter Schüler angesprochen.

Schüler sind bei Testvorführungen ergriffen

Ursprünglich sollte das Stück im Container nur auf den Schulhöfen der Stadt gespielt werden. Aber das Ensemble erlebt bei den Vorbereitungen zu „Pass-Worte“ eine Überraschung nach der anderen. „Wir haben vor eineinhalb Jahren mit der Arbeit begonnen“, erzählt Texterin Alexa Steinbrenner, „aber inzwischen hat uns die Aktualität förmlich überrollt.“ Soll heißen: Das Interesse ist so groß, dass der Container nun auch am Theaterhaus platziert wird. Dort kann dann jedermann diese Metamorphose durchmachen, die Kathrin Hildebrand bestechend spielt. Hildebrand mimt die Rolle der Dolmetscherin. Sie übersetzt Asefs Bericht vor einem Beamten beim Bundesamt für Migration vom afghanischen Dari ins Deutsche. Erst kühl-rational, aber im Laufe des Protokolls immer hastiger. Emotionen bauen sich wie bei einem Crescendo auf. Am Ende wirbeln die Worte nur so aus ihrem Mund. Am Ende ist Hildebrand eins mit Asaf. Wenn der Vorhang symbolisch fällt, ist der Zuschauer meistens eins mit Asaf, eins mit Belal und allen, die notgedrungen im Exil leben.

Bei den ersten fünf Test-Aufführungen mit Stuttgarter Schülern klappt dieser Transfer vom Unbeteiligten zum Betroffenen jedenfalls erstaunlich gut. Die Stuttgarter Jugendlichen kapieren, dass die jugendlichen Flüchtlinge keine Außerirdischen sind, vor denen man sich fürchten muss. Für sie gibt es nun nicht mehr die unbekannten Wesen aus Afghanistan oder Syrien, sondern einen Vertriebenen mit persönlichem Schicksal. So können die 45 Minuten im Container zu einem Selbsterfahrungskurs mit finalem Aha-Erlebnis werden.

„Wir möchten mit ‚Pass-Worte‘ erreichen, dass vorurteilsfreier über Flüchtlinge gesprochen wird“, sagt die Autorin Alexa Steinbrenner, „wir wollen, dass die Menschen weniger ,Ja, aber‘ sagen und nach dem Stück fragen: ,Wo können wir anfangen zu helfen?‘.“

Premiere von „Pass-Worte“ ist am Donnerstag, 8. Oktober, auf dem Schulhof der Linden-Realschule. Schulen, die Interesse an einer kostenlosen Aufführung haben, können sich unter der E-Mail-Adresse info@lokstoff.com bewerben.

Für jedermann ist das Stück am 28. und 29. Oktober sowie am 4., 5. und 7. November jeweils um 19:30 Uhr auf dem Hof des Theaterhauses Stuttgart zu sehen. (StN)