Quell der Unterdrückung: Schauspieler Frank Deesz als Diktator in dem Theaterstück „Revolutionskinder“. Foto: Lichtgut / Max Kovalenko

Das Theaterstück „Revolutionskinder“ handelt von den Protestaktionen in der späten DDR und den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Neben drei professionellen Schauspielern und Jugendlichen aus dem Raum Stuttgart spielen auch junge Geflüchtete mit.

Stuttgart - Mit dem Gesicht zur Wand stehen sie in einer Reihe, strecken die Hände weit über den Kopf: 15 junge Menschen, ein Drittel der Mitglieder des Theaters „Lokstoff“. In einer Stunde werden sie hier, in der Stadtbibliothek am Mailänder Platz, zu „Revolutionskindern“. Noch proben sie den Aufstand.

Ein Mädchen dreht sich um. Sie trägt blondierte kurze Haare, roten Lippenstift und schwarze Stiefel, die ihr bis über die Knie reichen: „Ich bin Zoe, ich bin 17 Jahre alt. Wir haben Vorurteile. Wir bilden uns unsere Meinung über Menschen, ohne sie wirklich zu kennen. Oft hat man nicht die Chance zu zeigen, wer man wirklich ist. Ich kämpfe gegen Vorurteile.“

Sie alle kämpfen gegen oder für etwas. Enya, 16, wünscht sich, dass die Menschen in ihrer vom Krieg geplagten Heimat den Glauben an die Zukunft zurückgewinnen. Fatima, 15, kämpft für das Recht auf ein besseres Leben. Asef, 17, kämpft für Frieden. Pyramus, 18, für die Liebe.

Das Theaterstück „Revolutionskinder“ handelt von der Sehnsucht nach Freiheit. Im Vordergrund steht dabei die Geschichte des antiken Liebespaars Pyramus und Thisbe. Doch das Bühnenwerk geht über die reine Erzählung hinaus: Es verknüpft die Sage mit einer Beschreibung der revolutionären Bewegungen innerhalb der späten DDR sowie des arabischen Frühlings. Eingewoben in dieses Geflecht aus Liebe, Widerstand und Politik sind die Schicksale der insgesamt rund 60 Schauspieler. Ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste – ihre Träume von Selbstbestimmung und von Frieden. „Jeder, der mitmacht, entwickelt eine Biografie für die Person, die er darstellt. Oft ist diese angelehnt an die eigene“, sagt Kathrin Hildebrand, künstlerische Leiterin der Gruppe.

Seit 2014 spielen auch junge Geflüchtete in dem Theaterstück mit

Zusammen mit dem Regisseur Wilhelm Schneck, dem Dramaturg Christian Müller und der Pädagogin Paulina Mandl erdachte Hildebrand das Stück im Jahr 2012 als schulübergreifendes Projekt: „Wir wollten Jugendliche zusammenbringen, die ansonsten vielleicht eher nicht zusammenkommen würden. Wir wollten ihnen eine Plattform bieten, auf der sie sagen können: Für was würde ich heute kämpfen?“

Das Stuttgarter Theater Lokstoff versteht sich durchaus als gesellschaftlich engagiertes Kollektiv. 2002 wurde es von Kathrin Hildebrand, Wilhelm Schneck und Paul Varkonyi gegründet – mit dem Ziel, die Zuschauer für die Probleme und Herausforderungen einer urbanen Gesellschaft zu sensibilisieren.

Im Frühjahr 2014 wurden die Gruppe der „Revolutionskinder“ erweitert. Neben drei professionellen Schauspielern und Jugendlichen aus dem Raum Stuttgart spielen seither auch junge Flüchtlinge mit. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Irak und Myanmar. „Wir haben neue Mitbürger, und die wollen wir integrieren“, sagt Hildebrand. Das funktioniere für beide Seiten: „Die Jugendlichen bestreiten hier etwas miteinander. Das schweißt zusammen.“

Und das trotz der Sprachbarriere, die bei einigen der Geflüchteten noch vorhanden ist. Im Spiel offenbart sich der – dem gemeinsamen Ziel der erfolgreichen Aufführung nur scheinbar untergeordnete – integrative Charakter des Mediums Theater.

Vieles erschließt sich aus der Aktion. Das Zusammenspiel gelingt meist ohne viele Worte. Und über kurz oder lang kommen sie dann wie von selbst, die Deutschkenntnisse. Die Proben sowie die privaten Treffen mit den neugewonnenen Freunden: Sie sind Integrations- und Sprachkurs zugleich.

„In meinem Land gibt es keine Freiheit“

So war das zumindest bei Asef. Während einer kurzen Probenpause steht der 17-Jährige vor dem Max-Bense-Forum im Untergeschoss der Stadtbibliothek. Die dunklen Haare trägt er schräg über die Stirn gewischt, die Augen gleichen schwarzen Mandeln. Seine blaue Trainingsjacke hat er bis an den Hals geschlossen.

In Afghanistan lebte Asef bei einem Onkel in Kabul. 2014 floh er vor den Taliban. Und vor einer Zukunft ohne Perspektiven. „In meinem Land gibt es keine Freiheit“, sagt Asef. Er hat eine lange Reise hinter sich. Sechs Monate war er unterwegs: Mit dem Schiff, im Bus, im Zug, zu Fuß. Im Iran arbeitete er, sammelte Müll auf für die Überfahrt in die Türkei. In Istanbul schlief er wochenlang in einem Park. Viermal versuchte er, von dort die Grenze zu überqueren: „Beim vierten Mal hat es geklappt.“

Seit einem Jahr lebt Asef nun in Stuttgart, in einer Unterkunft in der Kupferstraße. Dort lernte er Paulina Mandl kennen. Die Pädagogin fragte ihn, ob er „Revolutionskind“ werden wollte. Asef wollte. Unter dem Projekt konnte er sich zwar nicht viel vorstellen. Eines aber wusste er : Dass es besser sein würde als das ewige Herumsitzen und Warten.

„Die Flüchtlinge sind einfach Menschen wie wir“

Und auch für die deutschen Jugendlichen ist das Theaterspielen mit Flüchtlingen in ihrem Alter eine wertvolle Bereicherung. Maja Morgenthaler, blonde Dreadlocks und moosgrüner Pullover, ist seit zwei Jahren im Team von Lokstoff. „Wenn man mit ihnen zusammensitzt oder zusammen arbeitet, merkt man: Die Flüchtlinge sind einfach Menschen wie wir“, sagt die 16-Jährige. „Sie sind mehr als Zahlen aus den Nachrichten.“

Im Schneidersitz sitzt Maja auf einem der Kunststoffstühle im Max-Bense-Forum. Knapp zwei Stunden vor dem Beginn der Aufführung herrscht hier moderates Chaos. In kleinen Gruppen stehen oder sitzen die Jugendlichen auf dem gräulichblauen, weißbestuhlten Linoleum. „Ihr könnt euch ruhig schon mal umziehen“, ruft Regisseur Schneck, während er die Runde macht, jede und jeden einzeln begrüßt.

Rund zehn Minuten später wird es ernst: Aufwärmübungen, dann proben. Um 19 Uhr beginnt die Aufführung. In einer Garage der Bibliothek sammeln sich die Zuschauer, von dort aus geht es los. Das weiße Hochhaus am Mailänder Platz ist nicht nur Schauplatz des Stücks. Es ist auch ein wichtiger Teil der dargebotenen Geschichte. Gleich zu Anfang werden die Theaterbesucher einer von zwei Gruppen zugeteilt. Auf unterschiedlichen Wegen erleben sie das Gebäude als Bühne der Revolte – seine Treppen, seine Emporen und seine Besucher. Unbewusst tragen auch sie ihren Teil zu der Aufführung bei: als Beobachter, die außenstehend nur dem Ablauf der Geschichte folgen, statt ihr aktiv etwas hinzuzufügen. Sie spiegeln die untätigen Mitläufer der Revolutionszeiten wider.

Nach der Aufführung wirken die jungen Schauspieler erleichtert. Asef grinst stolz als Schneck ihm lobend auf die Schulter klopft. „Das Allerschönste an dem Stück ist doch, mit all diesen vielen Jugendlichen zusammenzukommen“, sagt der Regisseur. „Mit ihnen die Nervosität zu teilen und den Abend gemeinsam zu gestalten. Sich wieder zu treffen und dabei fast so etwas wie eine kleine Familie gefunden zu haben.“ Man kann sich gut vorstellen, was dieses Gemeinschaftsgefühl für die Geflüchteten bedeutet.

Das Theaterstück „Revolutionskinder“ wird ab dem 22. September 2016 wiederaufgeführt. Beginn um 19 Uhr in der Stadtbibliothek Stuttgart, Mailänder Platz 1. Karten man kostenfrei und verbindlich reservieren per E-Mail an sandro.faust@kulturgemeinschaft.de. Weitere Infos: www.lokstoff.com