Holger Stockhaus und Hanna Plaß in Fritz Katers „5 morgen“, dem Stuttgarter Beitrag für das Theaterfestival „Terrorisms“ Foto: Bettina Stöß

Fünf große Theaterproduktionen zeigt das Schauspielhaus bei dem Festival „Terrorisms“. „The Dragonslayers“ aus Belgrad war am Freitag zu sehen, „5 morgen“ (Stuttgart) und „God Waits at the Station“ (Tel Aviv) am Samstag.

Stuttgart - „The Dragonslayers“

Noch ist am Freitagabend die mit Holzkisten bestückte Bühne im Schauspielhaus Stuttgart unbelebt, da wird Musik aus dem mobilen Radio durch eine aktuelle Meldung unterbrochen: „Terror auf drei Kontinenten, über 60 Menschenleben ausgelöscht“. Das Flüstern im Publikum erstirbt. Die Gegenwart überholt den Leitgedanken dieses Internationalen Theaterfestivals – „Terrorisms“.

Wenige Minuten später fragt ein Schauspieler im Clownskostüm: „Was ist Wahrheit? Wer ist im Recht, gibt es Wahrheit überhaupt?“. Und dann wird zwei Theaterstunden lang in der klugen Inszenierung „The Dragonlayers“ (Text Milena Markovic, Regie Iva Milosevic) die Sinnhaftigkeit des Attentates von Sarajewo analysiert.

Eine Geschichtsstunde in mehreren Zeitebenen ist es, mit Tanz, mit Gesang, mit Puppen, mit Stelzenfiguren erzählt; die Aussagen der Texte sind ironisch gebrochen. Historische Fakten über die Zeit, als Sarajewo, die Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina war, beide Länder seit 1908 von Österreich-Ungarn annektiert und die Serben ein bettelarmes Volk waren, sind zu lernen. Freiheit hatten sich die Nationalisten auf die Fahne geschrieben. Freiheit und das Recht, einen eigenen Staat der südslawischen Völker zu gründen. „Wir sind keine Kriminellen, wir lieben das Volk“ und „der Schuss galt dem Kaiser und nicht dem Menschen“, ruft Nikola Rakocevic als der serbische Attentäter Gavrilo Princip und bleibt doch ein Mörder.

Gorcin Stojanovic (Bühne) hat die Darsteller des Jugoslovensko dramsko pozoriste aus Belgrad nach dem Attentat mit blutroten Bändern an eine Wand gefesselt. Mit enormem physischen Aufwand inszenieren die Schauspieler ihre Folter. Sie schlagen sich, sie reißen an den Bändern, sie würgen, sie protestieren gegen die Festnahme. Sie verstehen sich als Retter der Freiheit. Der Verzicht des Belgrader Ensembles auf eine distanzierte, unterkühlte Interpretation ihrer eigenen Historie und die Fokussierung auf ein Theater der Emotion wird vom Publikum bestens verstanden und mit herzlichem Beifall belohnt. Heiß oder kalt sein, aber niemals lauwarm – das ist die Botschaft der jungen Serben an diesem Abend. „5 morgen“

Armin Petras’ Inszenierung von Fritz Katers Zukunftsvision „5 Morgen“ in der Spielstätte Nord ist in den knappen zwei Jahren seit der Premiere deutlich näher an unsere Gegenwart gerückt.

Die Schlagzeilen der vergangenen Woche lesen sich wie die makabre Bestätigung dafür, welche zentrale Rolle das Thema „Terror“ einnimmt. Die Angst, die einen beim Lesen solcher Nachrichten beschleicht, ist Angst vor äußeren Bedrohungen.

Petras verlagert dagegen in „5 Morgen“ den Terror ins Innere der Menschen. „Es gehe nicht darum, vor einer äußeren Bedrohung Angst zu haben, sondern davor, dass man das falsche Leben lebt“, sagt Petras selbst im Nachgespräch. Dieses Leben leben die Figuren in seiner tragischen Science-Fiction Komödie unter Hochdruck. In einer Zukunft, die soviel Seele wie ein Filmset für einen B-Movie hat, überschneiden und trennen sich fünf Einzelschicksale. Missy (Katharina Knapp), eine platinblonde Tankstellenwarttochter investiert frustriert in die Verführung ihres Professors August. Holger Stockhaus windet sich in dieser Gelehrtenrolle in zu engen, hippen Anzügen und später nur noch in Unterhose. Der Rest der Kleidung ist beim Versuch die Frauenwelt zu befriedigen, auf der Strecke geblieben. Aber August bringt es nicht. Er ist eine Karikatur seiner eigenen Traumvorstellung mit schlechtsitzender Vollhaarperücke. Das hat auch seine erfolgreiche Ehefrau Julia (Manja Kuhl) bemerkt und lässt sich per virtuellem Wisch scheiden. So macht man das in der Zukunft. Das spart Zeit. Denn die Karriere als Ärztin oder der Erfolg von Boutiquebesitzerin Loretta (Anja Schneider) frisst das Privatleben. Wo Frauen versuchen dem Leistungspensum standzuhalten, stehen der IT-Nerd Paul (Andreas Leupold) und August unter dem ständigen Druck ihr Leistungsdefizit zu kompensieren.

Was langsam und erzählerisch beginnt, steigert sich in einen fragmentarischen Szenenregen mit Stimmungswechseln wie ein Blitzlichtgewitter. Dass außerhalb des persönlichen Mikrodesasters der Figuren gerade die Menschheit auf ihr Ende zurast, geschieht fast nebensächlich. Die vage Bedrohung, ein Hybrid aus Supervirus und atomarer Giftwelle, wirkt wie ein Katalysator für die überfällige Frage, ob der Kampf ums Überleben oder der Frieden im Tod die bessere Option ist. Als sich der infizierte August wünscht vor seinem Tod im Tümpel seiner Kindheit zu planschen, wird deutlich: Endgegner ist der Tod und nicht die nächste Karrierehürde.

„God Waits at the Station“

Mit einem lauten „Bumm!“ explodiert die Bombe in dem gut besuchten Restaurant in der israelischen Stadt Haifa. Es ist kurz nach 14 Uhr. Die Überreste der Gäste werden die Polizisten später mit Pinzetten zusammensammeln müssen – Eisenwürfel, Schrauben, Metallkügelchen, Bleikugeln, Nägel und Muttern haben ihr Übriges getan. Amal Kharwish (Oshrat Ingedashet) steht in der Mitte der Bühne, zieht schwarze Stoffblüten aus ihrem weißen Kleid, entleert den nur scheinbar schwangeren Bauch. „Nach dem Bumm hört man nichts mehr“, sagt sie leise. Um sie herum panische Stimmen: „Mama?“ – „Ich will nicht sterben!“

Maya Arads „God Waits at the Station“ basiert auf einem Terroranschlag während der zweiten Intifada, dem palästinensischen Aufstand gegen Israel, der von September 2000 bis Februar 2005 dauerte. Nach den Angaben der israelischen Botschaft Berlin verübten palästinensische Terroristen in den 1558 Tagen 20 406 Anschläge, darunter 138 Selbstmordattentate. „Es war eine schreckliche Zeit“, erinnert sich Ruth Tonn Mendelson, künstlerische Leiterin am Habima Nationaltheater in Tel Aviv, bei der Einführung des Stücks im Schauspielhaus: „Busse explodierten mitten auf der Straße, Menschen wurden am helllichten Tag erstochen.“

Amal wird in einem Flüchtlingscamp im Westjordanland geboren. Ihr Vater Thaiser stammt aus Haifa – einer Stadt am Meer, die in diesem Stück gleichzeitig Sehnsuchtsort, Heimat und Hölle ist. Mit den Kindern im Camp spielt die kleine Amal fast täglich – und verwandelt die Steinschleudern ihres Bruders Fares in Stethoskope. Ein Wink in die Zukunft: Das Mädchen wird später Krankenschwester, der Junge als führender Terrorist getötet.

Bei seiner Hochzeit stürmen israelische Soldaten die Feier, schießen den Bräutigam in den Rücken. „Zwei Augen reichen nicht, um diesen Schmerz zu weinen“, klagt Fares’ Mutter Nadila. Amal vergießt keine Träne. Dann erkrankt Thaiser an Krebs. Die Ärzte im Westjordanland können ihm nicht helfen. Amal versucht, mit ihm die Grenze zu passieren, erhält jedoch als Verwandte eines Terroristen keinen Passierschein. Nach dem Tod Thaisers verbittert die junge Krankenschwester. Angeleitet von den Freunden ihres Bruders wächst in ihr ein perfider Plan.

„Bumm!“ Was bleibt, ist die Schuldfrage. Wer trägt neben Amal die Verantwortung für die abscheuliche Tat? Die Terroristen, die sie erfolgreich umwarben? Der Taxifahrer, der sie zum Tatort fuhr? Die 18-jährige Soldatin, die aus Mitleid eine scheinbar schwangere Frau passieren ließ?

In weißen, sich ähnelnden Gewänder mit blutrotem Saum, kommen die acht Darsteller auf der Bühne fast ohne Hilfsmittel aus: Nur wenige Stühle und Stäbe stehen vor einer großen Leinwand. Einige Schauspieler verkörpern mehrere Rollen, sind mal auf dieser oder jener Seite. Ein Verwirrspiel, das ausdrückt, wie fließend die Grenzen im Nahostkonflikt sein können.

Mit „God Waits at the Station“ will Arad denn auch zeigen, dass beide Seiten, Israelis und Palästinenser, unter der momentanen Situation leiden. Sie stellt Emotionen in den Mittelpunkt – den aus der jahrzehntelangen Drangsalierung gewachsenen Hass da, die Panik vor neuen Attentaten dort – und verflicht sie vor dem Hintergrund eines realen Ereignisses zu einer Kollage, die immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt. „Bumm!“ Eine Bombe explodiert in einem gut besuchten Restaurant in Haifa.