Die hoch gelobten Künstler, Regisseur Jossi Wieler und Schauspieler André Jung, arbeiten erstmals gemeinsam fürs Schauspiel Stuttgart. Sie sagen, was sie an Fritz Katers neuem Stück schätzen und warum Hass ein wichtiges Gefühl ist.
Stuttgart - Als Schauspielschüler, sagt André Jung (62) in der Probenpause, habe er als Komparse in Stuttgart den großen Bernhard Minetti aus nächster Nähe erlebt. Zurzeit spielt er selbst hier, Jossi Wielers (64) Inszenierung von Fritz Katers „I’m searching for I:N:R:I (eine Kriegsfuge)“. Premiere ist an diesem Freitag um 20 Uhr im Kammertheater Stuttgart. Jung spielt Maibom, einen Mann, den eine Liebesbeziehung mit einer Frau namens Rieke verbindet. Doch es stellt sich heraus, dass sie andere sind, als sie zu sein scheinen. Im Gespräch ergänzen sich André Jung und Jossi Wieler immer wieder in ihren Ansichten über das Stück, die Liebe, die Politik. Nur einmal macht der Regisseur mit einem Kompliment den Schauspieler sprachlos.
Jung: Es gibt vieles in dem Stück, das nicht gesagt wird oder wenn, dann lapidar, brutal. „So ein Leben ist schnell erzählt“, sagt einmal die Figur Rieke zu ihrem Lebensgefährten Maibom. Und er antwortet: „Deins auch.“ Was für eine Entfernung das plötzlich schafft . . .
Jung: Wenn es uns gelingt, das Stück gut zu spielen, verweist es sowieso auf heute.
Wieler: Alle guten Werke haben eine Relevanz für die Gegenwart.
Jung: Mit einem fertig einstudierten Text zur Probe zu kommen, wäre eher hinderlich. Es ist wichtig, dass man gedanklich nicht von Anfang an zu festgelegt ist.
Wieler: André ist Heimat.
Jung: Das gebe ich genau so zurück. Man vertraut einander künstlerisch.
Jung: Zu wissen, wie der jeweils andere in Situationen reagiert, und Vertrauen zu haben ist ein tolles Gefühl – im Gegensatz zu dem Gefühl, das man oft am Theater hat, nämlich Eingeschüchtertsein.
Wieler: Das bringt die hierarchische Struktur des Theaters und der Oper oft mit sich, und es ist auch auf der Regieseite so, dass man sich manchmal eingeschüchtert fühlt.
Wieler: Und das bedeutet auch inhaltlich etwas: Wie funktionieren Erinnerung und Gedächtnis? Wie ist das historische Gedächtnis strukturiert? Diese Strukturfrage betrifft auch die dramatische Form.
Jung: Ein großer Teil der Probenarbeit ist die Analyse des Textes. Wir bemühen uns sehr um die „Kunst der Fuge“ in dem Stück, das heißt, die verschiedenen Facetten der Themen und Motive wirklich ineinander und übereinander zu schichten.
Wieler: Es geht immer wieder auch um Macht und Ohnmacht und um die Frage: Was ist Wahrheit, gibt es so etwas überhaupt, eine objektive Wahrheit?
Wieler: Das sind Sätze, die einen hohen Wahrheitsgehalt haben.
Wieler: Das hat auch mit Pathologien zu tun. Hass ist stärker als Liebe. Die Tatsache, dass Maibom 1952 nach Deutschland kommt, in das Land der Täter . . .
Jung : . . . um sie auszunutzen . . .
Wieler: . . . Ja, das ist sehr ambivalent.
Jung: Maibom ist zu 95 Prozent des Stückes in Deutschland, und den Entschluss, nach Deutschland zu gehen, hat er in dem Augenblick gefasst, wo er nichts mehr hatte, weder Heimat noch Angehörige, noch einen Beruf.
Wieler: Er konnte den ideologischen Aufbruch im jungen Staat Israel nicht aushalten, er konnte nicht vergessen.
Jung: Weil keiner über das geredet hat, was in der NS-Zeit passierte. Aber für ihn konnte es nicht vorbei sein, auch in Israel blieb er ein Entwurzelter, der dort noch den letzten Verwandten, der ihm blieb, betrog.
Wieler: Das meine ich mit der Pathologie: so wie ein Pyromane an den Brandherd zurückkehrt. Das hat masochistische und sadomasochistische Züge, aber sehr verborgen.
Jung: Es wird sicherlich kostümmäßig unterstützt, aber nur durch Zeichen. Wichtiger ist die Energie der verschiedenen Altersstufen. Wobei gerade da, wo die Energie am größten sein sollte, als 30-Jähriger, Maibom in einer sehr hilflosen und aussichtslosen Lage ist. Bei dem alten Maibom wiederum muss man das Alter über die Alterssturheit erzählen, denn seine Energie ist groß, auch wenn er dauernd über seine Müdigkeit spricht. Beim 40-jährigen Maibom ist viel möglich, er steckt gerade in einer Situation, in der er denkt, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Aber er nimmt sich von dieser Liebe auch nur das, was er davon gebrauchen kann. Er hat viele Pläne, möchte Detektiv sein und Journalist.
Wieler: Und das ist er ja auch.
Jung: Ja, aber er ist auch das Klischee von einem Journalisten. In dem Stück gibt es viele Genres, eines benennt Kater: B-Movie. Da ist viel Jerry Cotton drin, auch das Wunschbild von dem, was er sich zu sein vorstellt. Und doch geht ihm alles daneben.
Wieler: Maibom ist auch ein Abenteurer und Spieler. Er geht nach Brasilien, um einen Nazi zu jagen, während Rieke gern hätte, dass er bei ihr bleibt. Sie sagt, sie hätten sich so viel zu erzählen. Möglicherweise Dinge, die man sich in den vergangenen Jahren nicht erzählt hat.
Wieler: Die Geschichte holt einen immer ein. Während Maibom auf der Reise nach Südamerika ist, begegnet Rieke in Berlin dem Zwillingsbruder des Mannes, den sie geliebt hat und den sie Jahre zuvor im Krieg verraten hat. Da geht die Fuge weiter, da geht die Flucht weiter.
Jung: . . . wo er seine Liebe und seinen Freund zurückgelassen hat, dessen Flucht am Elektrozaun gescheitert ist. Das verfolgt den jungen Mann. Alle Figuren haben eine brüchige, schuldbeladene Biografie.
Wieler: Ja.
Jung: Wobei man besser weiß, was Geschichte ist, als was Liebe ist.
ZUR PERSON:
Intendant der Oper Stuttgart, wurde 1951 in Kreuzlingen/Schweiz geboren. 1972-80 Regiestudium in Tel Aviv. Hausregisseur in Heidelberg und Basel. Anschließend Schauspiel-Inszenierungen an der Schaubühne Berlin, an den Münchner Kammerspielen. 1 994 erste Operninszenierung mit Sergio Morabito an der Oper Stuttgart.
1953 wurde André Jung in Luxemburg geboren. 1973-1976 Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Engagements in Basel, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspiel Zürich und zuletzt (2004-2015) an den Kammerspielen München.
1990 war Lessings „Nathan der Weise“ in Basel die erste gemeinsame Schauspielarbeit von Jossi Wieler und André Jung. Seither haben die beiden immer wieder zusammengearbeitet, zuletzt 2008 Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ in München und 2009 „Das letzte Band/Bis dass der Tag euch scheidet“ bei den Salzburger Festspielen. Zusammenarbeiten an der Oper Stuttgart: Mark Andres „wunderzaichen“ und Strauss’ „Ariadne auf Naxos“
Info
Fritz Kater, soeben für „Buch (5 ingredientes de la vida“ zum Dramatiker-Wettbewerb nach Mülheim eingeladen, hat mit „I’m searching für I:N:R:I“ ein neues Werk geschrieben. Erstmals inszeniert Jossi Wieler ein Kater-Stück, Uraufführung ist an diesem Freitag, 20 Uhr, im Kammertheater Stuttgart. Neben André Jung spielen Fritzi Haberlandt, Manja Kuhl, Lucie Emons und Matti Krause.
„l’m searching for I:N:R:I“ umfasst die Zeit von 1941 bis 1989. Allerdings wird nicht chronologisch erzählt, auch wechseln die Orte: Berlin, Bonn, Tel Aviv und Havanna. Das Stück handelt von Schuld und Verrat, von deutscher Geschichte und scheiternder Liebe und zeigt die Hauptfiguren – das Paar Maibom und Rieke – in verschiedenen Lebenssituationen. (StN)