Die Figuren von Otto Dix werden lebendig Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Das Stück beginnt im Kunstmuseum. Zuschauer versammeln sich vor dem Triptychon „Großstadt“ von Otto Dix. Dann beginnt die Reise mit der Stadtbahn-Linie Dix hinauf auf den Killesberg. Immer haarscharf auf dem Grat zwischen Traum und Realität.

Stuttgart - Otto Dix ist das Lockmittel des Ensembles Lokstoff. Der Maler der neuen Sachlichkeit ist die Eintrittskarte in ein absurd-groteskes Theater-Erlebnis. Das berühmte Bild „Großstadt“ im Kunstmuseum ist der Anfang einer dramatischen Reise, aber nicht ihr Ende. Das Publikum kommt nicht mehr an diesen Ort zurück. Warum auch? Schließlich begleiten von diesem Moment an die befremdlich wirkenden Figuren von Dix’ Triptychon die Theatergäste auf dem Weg durch die Großstadt. Raus aus dem Museum, runter auf den Schlossplatz, hinauf auf den Killesberg.

Auf dieser Reise werden die Gemälde-Figuren in den Schauspielern lebendig und hetzen mit einer eigens für das Stück gemieteten Stadtbahn durch die Stadt. Abfahrt zur Höllenfahrt in eine Zwischenwelt, die zwischen Traum und Realität changiert.

Wahrheit oder Dichtung? Traum oder Realität? „Wenn der Zuschauer nicht mehr weiß, wo er ist, dann haben wir unser Ziel mit dem Stück erreicht“, sagt Kathrin Hildebrand, Schauspielerin und künstlerische Leiterin des Ensembles. Dann gilt der bekannte Satz aus der Antike: Neues ist Altes, das wir nur vergessen haben.

Lokstoff-Dramaturg Werner Kolk nimmt diesen Gedanken auf seine Weise auf. Er findet „abgründige Parallelen“ zu damals, zu den 1920er Jahren – in Texten und Bildern. Aus seiner Sicht eine Epoche „der Totalverweigerung von Sinn“. Eine Ära, die „auf die große Katastrophe zusteuert und nach maximaler Zerstreuung giert“. Auch heute, so Kolk, „finden doch manche nur noch Sinn darin, auf das neue iPhone 7 zu warten“.

Ob diese Analyse berechtigt ist? Widerspruch ist erlaubt. Schließlich finden sich heutzutage mehr Sinnsucher als jemals zuvor. Sei’s drum. Kolk webt daraus (s)eine Geschichte. Die Story des neuen Stücks von Lokstoff, bei dem die Zuschauer mit folgenden Worten begrüßt werden: „Sie sind auf der Suche nach grenzenloser Zerstreuung? Sie gehören zum erlauchten Kreis der Mitglieder des geheimen Jungle-Club? Bienvenue! Welcome! Tanzen Sie mit uns auf dem Vulkan! Geht es doch um einen hoch dotierten Selbstmörderwettbewerb.“

Wer jetzt zuckt, ist mittendrin. In dieser irrwitzigen Geschichte, in der ein steinreicher Kerl eine Wahnsinnssumme für den schönsten Selbstmord auslobt. Die Spiele können beginnen. Und wie es sich heute gehört – alle sind dabei, direkt am Pulsschlag der Selbstmörder. Während der Fahrt mit der Linie Dix auf den Killesberg reportiert Tom Bartels – er hat auch das WM-Finale kommentiert – wie ein Radioreporter live vom Wettbewerb. Wie steht’s? Wer ist schon tot? Bartels Stimme aus den Stadtbahn-Lautsprechern lässt einen mitzittern.

Und wieder verschwimmen die Trennlinien. Wer ist Schauspieler? Wer ist Fahrgast? Es sind die Situationen, die dem Theater im öffentlichen Raum ihre Spannungen verleihen. Aber auch den Zugang zu Kunst erleichtern. Damit trifft das Interesse von Lokstoff und Ulrike Groos, der Chefin des Kunstmuseums, zusammen: Sie wollen die Hürden auf dem Weg ins Theater und/oder ins Museum aus dem Weg räumen, um möglichst viele „kunstferne Menschen“ anzusprechen.

Selbst in diesem Fall, bei dem sich hinter den Texten und Bildern dieser Großstadtrevue teilweise schwere Kost findet. Der in Paris lebende Philosoph und Dramaturg Werner Schalk hat ein literarisches Füllhorn geöffnet, aber sein dramaturgisches Gegengewicht Dieter Nelle hat rechtzeitig wieder den Deckel draufbekommen. „Am Ende steht die Konzentration aufs Wesentliche“, sagt Kathrin Hildebrand, „Dieter Nelle ist unser Pragmatiker. Er holt das Ganze wieder auf den Boden zurück.“

So erlebt der Zuschauer ein umfangreiches Text-Potpourri, ohne sich erschlagen zu fühlen. Realschönes von Mascha Kaleko, Satirisches von Kurt Tucholsky, Lyrisches von Erich Kästner. „Es ist eine Collage, eine Großstadtrevue geworden“, sagt Katrin Hildebrand, „die alle Sinne anspricht.“

Tatsächlich atmet am Höhepunkt des Stücks auf dem Killesberg ein Akkordeon schwere Klänge zu einem Tango. Tatsächlich haucht Lisa Scheibe den Liedern des Komponisten Valerio Pizzorno Sehnsucht ein. Und freilich runden in einer Revue Lindy-Hop-Tänzer mit ihrer frivolen Charleston-Variante das grotesk-sarkastische Treiben in der Linie Dix ab.

Beim Finale am Schlossplatz sollen die Zuschauer glauben, dass sie das Paradies verloren, aber die Stadt gewonnen haben. Sie sollen mit „dem unerschrockenen Blick von Otto Dix die Gegenwart unserer Metropole begreifen“ (Hildebrand).

So wird Theater zur moralischen Anstalt, in der es heißt: Nur wer das Gestern begreift, das Heute erkennt, der hat Hoffnung auf Morgen.

Die „Linie Dix“ feiert an diesem Freitag Premiere (ausverkauft). Weitere Termine: am 8. und 28. November sowie am 16. und 17. Januar. Das Ticket ermöglicht die Besichtigung der Werke von Otto Dix im Kunstmuseum jeweils eine halbe Sunde vor Vorstellungsbeginn. Beginn ist jeweils 19 Uhr (samstags) und 20.30 Uhr (freitags). Karten kosten 26 Euro, ermäßigt 16 Euro. Regie: Wilhelm Schneck. Dramaturgie: Werner Kolk und Dieter Nelle. Es spielen: Kathrin Hildebrand, Nathanael Lienhard, Lisa Scheibe, Alexa Steinbrenner, Christina Uhland und Tobias Wagenblaß.