Erwin Teufel erklärt, warum er noch immer vom Milliardenprojekt überzeugt ist.

Kein anderer Ministerpräsident war länger mit Stuttgart 21 befasst als Erwin Teufel (71). In seiner Amtszeit (1991 bis 2005) fielen wichtige Weichenstellungen. Im Interview erklärt er, warum er von dem Milliardenprojekt auch jetzt noch überzeugt ist.

Herr Teufel, Sie haben Stuttgart 21 maßgeblich mit auf den Weg gebracht. Wie erklären Sie sich die Wucht des aktuellen Protestes?

Ich bin darüber nicht überrascht. Ich habe in 34 Jahren Landespolitik kein einziges Großprojekt erlebt, das von der Idee bis zur Durchführung nicht wenigstens 14 oder 15 Jahre benötigt hätte. Ohne Protest ging das nie ab. Denken Sie an die Verlängerung der Start-und-Lande-Bahn des Stuttgarter Flughafens; sie wurde von Lothar Späth durchgesetzt und von mir als CDU-Fraktionsvorsitzendem mitgetragen. Oder an die Schnellbahntrasse von Stuttgart nach Mannheim in den 70er Jahren, als um jeden Acker gerungen wurde. Oder denken Sie an die umstrittene Stuttgarter Messe. Heute sind all diese Projekte nicht nur akzeptiert, sondern selbstverständlich. Ich will damit sagen: Demokratie muss Dialog sein, und man muss den Bürger mitnehmen. Aber wenn man während der Planungs- und Bauphase ständig Rücksicht auf Einwände nimmt, fällt ein Land zurück.

Jetzt haben Sie es aber mit anderen Größenordnungen zu tun. Die Kosten betragen ein Vielfaches, und auch der Protest ist weitaus größer als etwa bei der Messe.

Auch ich halte es für ungewöhnlich, dass so viele Bürger auf die Straße gehen. Das gab es bisher nur bei Anti-Atom-Demonstrationen. Trotzdem muss man den Protest in Beziehung setzen zur Einwohnerzahl von Stuttgart und der gesamten Region. Gemessen daran, waren die Proteste auf den Fildern vergleichbar.

Was hat Sie vor 16 Jahren an Stuttgart 21 überzeugt?

Es wird in der öffentlichen Diskussion gern vergessen, wie es überhaupt zu diesem Projekt kam. Damals wollte die Bahn den Hauptbahnhof Stuttgart nicht mehr mit ICE-Zügen anfahren. Sie wollte vielmehr einen neuen Bahnhof in Bad Cannstatt dafür bauen und die Schnellbahnstrecke durch das hochbelastete Neckartal über Plochingen und Wendlingen hoch zur Autobahn führen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man das hätte durchsetzen können. Außerdem wäre damit die Innenstadt von den Fernverbindungen abgeschnitten gewesen. Zur gleichen Zeit wollte die Bahn auch die Innenstädte von Mannheim und Ulm nicht mehr mit ICE-Zügen bedienen. Mannheim hat damals gekämpft, Ulm hat gekämpft, und die Landesregierung hat die Städte unterstützt.

Und in Stuttgart schlug der damalige BahnChef Heinz Dürr den Durchgangsbahnhof vor.

Ja, und alle Beteiligten haben darin eine große Chance gesehen. Denn damit ließ sich nicht nur der ICE-Bahnhof in Stuttgarts Innenstadt erhalten, sondern auch ein neuer ICE-Bahnhof beim Flughafen verwirklichen. Zudem haben wir es für einen großen Vorteil gehalten, dass man mit acht Gleisen auskommt und somit eine riesige Fläche in bester Citylage frei wird. Stuttgart gewinnt an Attraktivität, und Baden-Württemberg wird nicht abgehängt: Das war für mich ein entscheidender Punkt. Wir alle müssen doch ein kardinales Interesse daran haben, dass die europäischen Verkehrsmagistralen auch über Stuttgart führen und nicht daran vorbei. Auch der Regionalverkehr wird verbessert, so dass man von einem Projekt Baden-Württemberg 21 sprechen muss.

Darf man diesen Fortschritt kaufen, ohne auf den Preis zu achten?

Ich habe erlebt, wie Bürger bei anderen Großprojekten gegen den Flächenverbrauch demonstrierten. Oft wurden teure Tunnellösungen gefordert. Jetzt baut man einen Tunnel, muss keine Häuser beseitigen, verbraucht keine freie Fläche - und es ist auch nicht recht.

Fürchten Sie nicht, dass es in anderen Landesteilen heißt, in Stuttgart wird Geld verbuddelt, und für andere Projekte wie die Rheintalstrecke bleibt nichts mehr übrig?

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Mittel, die frei würden, wenn man Stuttgart 21 aufgibt, würden nicht in Baden-Württemberg verbaut. Das sind Bundesmittel, die dann in andere Projekte fließen würden. Wir müssen doch stark daran interessiert sein, dass wir nicht nur Steuern zahlen und Milliardenbeträge in den Finanzausgleich geben, sondern dass ein Teil der Mittel auch zurückfließt. Für unsere Wirtschaft ist das von entscheidender Bedeutung.

"Potest ist bei Großprojekten nicht die Ausnahme"

Sie schildern Stuttgart 21 als ein Konzept von zeitlosem Nutzen. Einer der Haupteinwände lautet, dass sich in der langen Planungsphase viele Bedingungen verändert haben.

Das Projekt hat sich viele Jahre lang in freien Wahlen behauptet. In den Gremien, ob Gemeinderat, Landtag oder Bundestag, gab es stets starke Mehrheiten. Außerdem ging es durch alle gerichtlichen Instanzen.

Die Gegner argumentieren, Stuttgart 21 sei dennoch nicht legitim, weil die Entscheidungen auf der Basis unzureichender Informationen zustande gekommen seien.

Das Argument richtet sich gegen diejenigen, die es benutzen, denn dass Stuttgart 21 so lange gedauert hat, hängt ja gerade damit zusammen, dass die Beschlüsse bis in die letzte Instanz angefochten worden sind. Wir hätten gerne viel früher gebaut.

Was ist dann schiefgelaufen, wenn der Protest derart zunimmt? Wurde das Projekt inIhrer Amtszeit zu schlecht kommuniziert?

Noch einmal: Protest ist bei Großprojekten nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wenn man nun sagt, die Kommunikation sei schlecht gewesen, entgegne ich: Ich kenne kein Bauvorhaben, das für den Bürger transparenter wäre. Das Modell von Stuttgart 21 steht schon seit vielen Jahren im obersten Geschoss des Bahnhofturms. Dort konnte es jeder besichtigen. Außerdem gab es Tausende Zeitungsberichte darüber. Ich frage Sie: Sind die Leute, die sich für Stuttgart 21 engagieren, vor 15 Jahren gefordert worden? Nein, Sie sind von einem Teil der Bürger gefordert worden, als alles schon entschieden war und man mit den Bauarbeiten bereits begonnen hatte. Ob etwas verpasst worden ist, müssen sich doch diejenigen fragen lassen, die jetzt erst demonstrieren.

Trotzdem wollen es viele Bürger nicht.

Demokratie ist nach einem Wort des französischen Philosophen Raymond Aron "kontrollierte Führung". Das bedeutet, Demokratie darf sich nicht erschöpfen in Talkshows, die folgenlos bleiben, oder in allgemeinen Debatten. In einer Demokratie muss sich Politik vielmehr als durchsetzungsfähig erweisen. Demokratie verkommt, wenn es keine Führung mehr gibt. Kontrollierte Führung heißt: Kontrolle durch die frei gewählten Gemeinderäte und Parlamente, Kontrolle durch die Medien und Totalkontrolle bei Wahlen.

Und wenn Umfragen besagen, dass dieMehrheit in eine andere Richtung gehen will?

Wenn man sich nach jeder Umfrage richtet, wird kein Projekt mehr umgesetzt. Mir ist aber noch etwas anderes wichtig: Ich halte den Rechtsstaat für eine der größten Errungenschaften in unserer Geschichte. Dazu gehören vor allem die Freiheitsrechte der Bürger, deswegen achte ich das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Demonstrationsfreiheit. Ich kritisiere also nicht, dass Bürger auf die Straße gehen und die Politiker argumentativ herausfordern. Zum Rechtsstaat gehört aber auch, dass jeder unter dem Recht steht und keiner über ihm. Weder steht eine Regierung über dem Recht noch ein Parlament noch ein Bürger. Zum Rechtsstaat gehört außerdem, dass frei gewählte Parlamente Entscheidungen treffen, die der Kontrolle von unabhängigen Gerichten unterliegen. All dies hat es bei Stuttgart 21 gegeben. Dann muss der Bürger diese Entscheidungen letztlich auch akzeptieren.

Was spricht dagegen, rechtmäßig gefällteParlamentsentscheidungen in einer Volksabstimmung zu revidieren?

Dagegen spricht, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes nach der Erfahrung der Weimarer Republik äußerst sparsam mit dem Instrument der Volksabstimmung umgegangen sind. Ich meine, je stabiler und reifer eine Demokratie ist, desto eher verkraftet sie Volksentscheide. Das klassische Beispiel ist für mich die Schweiz, die seit Jahrhunderten eine Demokratie ist. Deutschland hingegen ist eine verspätete Nation, eine verspätete Demokratie und ein verspäteter Rechtsstaat.

"Man kann durchaus darüber diskutieren, ob man an der einen oder anderen Stelle die Volksabstimmungen erleichtert"

Sind die Deutschen nicht reif genug für mehr direkte Demokratie?

Man kann durchaus darüber diskutieren, ob man an der einen oder anderen Stelle die Volksabstimmungen erleichtert.

Auch für Stuttgart 21?

Ich sehe nicht, wo es eine Rechtsgrundlage dafür gäbe. Deshalb auch die fürchterlichen Verrenkungen rechtlicher Art bei den Befürwortern.

Ist es richtig, die Landtagswahl zur Volksabstimmung zu machen, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeschlagen hat?

Ich finde es sehr positiv, dass sich die Kanzlerin ohne Wenn und Aber zu Stuttgart 21 bekannt hat. Doch am 27. März geht es wahrlich um mehr als um Stuttgart 21. Es geht darum, ob Baden-Württemberg wirtschaftlich seine Spitzenstellung behält, es geht um die Förderung des Mittelstands, um die Sicherung von Arbeitsplätzen, um die Exzellenz unserer Schulen und Hochschulen. Das sind die Trümpfe Baden-Württembergs. Die Verkehrserschließung ist dabei sehr wichtig. Nicht ohne Grund habe ich am Beginn meiner Amtszeit als Ministerpräsident ein eigenes Verkehrsministerium geschaffen. Ich wollte damit erreichen, dass ein Minister sich ausschließlich um Verkehrsfragen kümmert. Ich bedaure, dass es danach wieder zur Zusammenlegung mit anderen Ressorts gekommen ist.

Sie glauben also nicht, dass die Wähler aus der Landtagswahl eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 machen?

Nein. Die Wähler können sehr wohl über ein Einzelproblem hinausschauen und die Gesamtsituation unseres Landes betrachten.

Kann die CDU wegen Stuttgart 21 dieLandtagswahl verlieren?

Das glaube ich nicht. Die CDU hat schwierige Phasen überstanden und sich trotzdem seit 1953 in diesem Land behauptet. Und das war gut für Baden-Württemberg.

"Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Großprojekte verwirklicht würden"

War Stuttgart 21 das letzte Großprojekt für lange Zeit angesichts der massiven Proteste?

Das hoffe ich nicht. Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Großprojekte verwirklicht würden und dass nicht 30 Jahre vergehen wie beim Autobahnabschnitt Stuttgart-Karlsruhe. Ich würde mir wünschen, dass es im Süden des Landes zwei vierspurige Verbindungen gäbe - von Lörrach über Stockach nach Lindau und von Freiburg über Tuttlingen nach Ulm. Zudem muss die Landeshauptstadt stärker mit vierspurigen Verbindungen erschlossen werden.

Sehen Sie noch Möglichkeiten des Ausgleichs?

Demokratie lebt vom Gespräch. Deswegen soll man den Dialog suchen, man sollte die Menschen ernst nehmen. Ich glaube, dass es unterhalb der Schwelle eines Baustopps sehr viele Möglichkeiten gibt, den Gegnern in ihren Anliegen entgegenzukommen - etwa im Bereich der Stadtplanung. Käme es allerdings zu einem Baustopp, dann hieße das: Stuttgart 21 ist gestorben. Das wissen auch diejenigen, die diese Forderung erheben. Natürlich würde Baden-Württemberg weiter existieren. Das Land wäre aber abgehängt, und es entstünden hohe Ausgaben ohne Nutzen.

Wenn es bei Stuttgart 21 um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes geht, wo ist dann die heimische Wirtschaft in dieser Debatte?

Die Unternehmen hatten in den letzten zwei Jahren alle Hände voll zu tun, sich auf dem Markt zu behaupten. Unternehmer kümmern sich nicht vorrangig um Politik. Jetzt ist aber eine Situation eingetreten, wo sich die Wirtschaft ruhig auch äußern kann.

Die Grünen waren immer schon gegenStuttgart 21, nun haben sie sich auch vonder Schnellbahntrasse Stuttgart-Ulm verabschiedet. Wie beurteilen Sie das?

Den Albaufstieg zu bauen war für die damalige Zeit eine tolle Sache. Das gilt auch für den Bau der Schwarzwaldbahn mit ihren vielen Kehren. Es war aber zugleich kurzsichtig, denn die Bahn wurde in dieser Form nur gebaut, weil das Großherzogtum Baden sie ausschließlich auf badischem Gebiet haben wollte. Technisch wäre es sehr viel leichter gewesen, das Kinzigtal zu benutzen. Ich will damit sagen: Wir müssen heute tun, was technisch möglich ist - und das ist ganz gewiss nicht eine Streckenführung über den Albaufstieg von Geislingen nach Ulm.

Die Grünen erhalten jedoch viel Zustimmung im Land. Derzeit liegen sie bei 27 Prozent . . .

. . . auch aus dem schönsten Grün wird einmal Heu.

Wie bewerten Sie den Sinneswandelin der SPD?

Die SPD ist nicht mehr regierungsfähig, weil sie nicht mehr verlässlich ist. Auf Bundesebene gibt sie im Augenblick die Rente mit 67 auf, teilweise auch die Hartz-Gesetzgebung. In Baden-Württemberg ist sie dabei, sich von Stuttgart 21 zu verabschieden, obwohl sie von Beginn an entschieden für das Projekt eingetreten ist. Damit verabschiedet sie sich von der Zukunftsfähigkeit.

Wolfgang Drexler hat als Projektsprecheraufgehört. Ein Nachfolger ist noch nicht gefunden. Wie wichtig ist ein Mister Stuttgart 21 in dieser Situation überhaupt noch?

Ich habe es für höchst bemerkenswert gehalten, dass er sich zur Verfügung gestellt hat. Im Unterschied zu manchen in der SPD ist er bei seiner Meinung geblieben. Wichtiger als ein neuer Sprecher scheint mir allerdings zu sein, dass diejenigen, die politische Verantwortung tragen, verantwortlich handeln und die Gesprächsbereitschaft zu keinem Zeitpunkt aufgeben.

Sie haben fünf Jahre lang geschwiegen. Spricht aus der Tatsache, dass Sie sich jetzt äußern, die Sorge, dass das Projekt doch noch scheitern könnte?

Nein. Ich habe lediglich auf Ihre Interview- anfrage reagiert.