Denis Cuspert alias Deso Dogg alias Abu Talha al-Almani preist in Rap-Videos den Heiligen Krieg als „großen Spaß“: Seine tausendfach angeklickten Internetauftritte sprechen die 18- bis 30-Jährigen an – genau die Zielgruppe der Terrormiliz Islamischer Staat. Foto: dpa

Die Zahl der Extremisten steigt in Deutschland immer weiter. Der Bund hat zum Januar dieses Jahres den Etat für die Extremismus-Prävention erhöht – doch was bringen die Programme?

Berlin/Stuttgart - Die Gespräche sind oft sehr emotional, die Anrufer aufgelöst. Manche weinen durchweg. „Wir versuchen den Menschen Hoffnung zu geben“, sagt Florian Endres, der bei der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am anderen Ende der Leitung sitzt. Der Politikwissenschaftler ist einer von drei Mitarbeitern, die die Anrufe von denjenigen entgegennimmt, die sich sorgen, ein Angehöriger könnte in die islamistische Szene abrutschen – oder abgerutscht sein. „Es kommt vor, dass ein Gespräch bis zu eineinhalb Stunden dauert“, sagt Endres. Es sei wichtig, so viel wie möglich über die jungen Menschen zu erfahren, um zu erkennen, wo es zu Brüchen im Leben und zur Hinwendung beispielsweise zum Salafismus gekommen ist.

Die Beratungsstelle des BAMF gibt es seit Januar 2012. Seitdem haben dort etwa 1200 Hilfesuchende angerufen. Daraus haben sich 450 Beratungsfälle ergeben. Die Zahl dieser tatsächlichen Gefährdungsfälle hat sich von 2013 auf 2014 verdoppelt. „Seit dem Sommer 2014 haben wir etwa acht bis zehn Fälle in der Woche, die wir zur intensiven Beratung weitergeben“, sagt Endres. Vorher seien es vier bis fünf gewesen.

Die Fälle junger Menschen, die in der telefonischen Beratung der Angehörigen als gefährdet eingestuft werden, sich dem islamistischen Extremismus zuzuwenden, werden an vier Partnervereine in Deutschland weitergereicht. Diese versuchen, den Kontakt mit den Betroffenen herzustellen.

Einer dieser Vereine ist das Violence Prevention Network (VPN), das unter anderem eine Beratungsstelle gegen Salafismus in Frankfurt am Main betreibt. „Seit der Einrichtung unserer Stelle im vergangenen Juli haben wir rund 60 Angehörige am Telefon beraten“, sagt Thomas Mücke, Geschäftsführer von VPN. „In 24 Fällen ergab sich aus den Beratungen der Angehörigen ein direkter Kontakt mit betroffenen Jugendlichen – mit denen wir nun arbeiten.“ Im November waren dies 20.

Bereits vor den Anschlägen auf das Pariser Satiremagazin „Charlie Hebdo“ rückte das Thema Prävention in den Fokus der Politik. Das Bundesfamilienministerium hat die Mittel für das Programm „Demokratie leben“ im vergangenen Jahr um zehn Millionen Euro aufgestockt. Ein Schwerpunkt: die Prävention gegen gewaltbereiten Islamismus. Damit stehen dem Programm seit Januar dieses Jahres 40,5 Millionen Euro zur Verfügung, etwa 0,5 Prozent des Gesamtetats des Familienministeriums.

Die Erhöhung des Etats sei schon mal „ein wichtiges Signal, dass man sich um die Prävention verstärkt kümmert“, sagt VPN-Chef Mücke. Da aber noch nicht klar sei, wofür die Mittel genau verwendet werden, gelte es erst einmal abzuwarten. Der Pädagoge wünscht sich jedoch, dass sich nicht nur der Bund, sondern vor allem die Länder stärker in der Extremismus-Prävention engagieren. „Länderprogramme gibt es noch viel zu wenige“, sagt er. Das Projekt in Hessen sei bundesweit einzigartig, da dort drei Landesministerien, Inneres, Justiz und Soziales, ein Kompetenzzentrum gegründet haben, das ressortübergreifend arbeitet.

Auch Baden-Württemberg hat zahlreiche Programme zur Prävention des islamistischen Extremismus aufgelegt. Einen Etat, der sich beziffern ließe, gebe es dafür allerdings nicht, heißt es aus dem Innenministerium. Im neuen Anti-Terror-Programm der Landesregierung, das unserer Zeitung vorliegt, wird der Aufbau eines sogenannten Kompetenzzentrums zur Koordinierung des Präventionsnetzwerks gegen Extremismus angekündigt. Vier Stellen sollen dort geschaffen werden.

Das derzeitige Angebot des Landes richtet sich vor allem an Schulen und Lehrer. Unterrichtsmaterialien und Fortbildungen sollen sensibilisieren. In den neuen Bildungsplänen der allgemeinbildenden Schulen für 2016 sollen die Themen Extremismus und Radikalisierung außerdem eine zentrale Rolle spielen.

Auch beim Landesamt für Verfassungsschutz gibt es eine Telefonnummer, über die sich Angehörige – wenn gewünscht, anonym – beraten lassen können, wenn sie sich sorgen, jemand in ihrem Umfeld könnte sich radikalisieren. Zahlen und Erhebungen, und damit auch eine Auskunft über den Erfolg dieser Hotline, gebe es allerdings nicht, so die Aussage aus dem Amt.

Alexander Salomon, Landtagsabgeordneter der Grünen und Mitglied im Innenausschuss, glaubt nicht, dass sich Angehörige oder gar Betroffene von so einem Angebot angesprochen fühlen. „Ob da jemand anruft oder nicht, folgt eher dem Prinzip Zufall“, sagt er. Das zeigt auch die Erfahrung des Bundesamts für Verfassungsschutz, das im September vergangenen Jahres nach vier Jahren das Programm „Hatif“, eine telefonische Beratung für Aussteiger aus der islamistischen Szene, wieder eingestellt hat – es hatte schlicht kaum jemand angerufen.

„Hotlines sind gut und wichtig“, sagt VPN-Chef Thomas Mücke. Aber aus der praktischen Arbeit weiß auch er: Nicht jeder schaut ins Internet und informiert sich über Telefonnummern. „In Frankfurt kommen die Leute auch in die Beratungsstelle, ohne vorher anzurufen.“ Viel passiere außerdem über Mund- zu-Mund-Propaganda. „Wenn die Menschen merken, dass sie Vertrauen haben können und ihnen geholfen wird, spricht sich das rum.“

Ein Allheilmittel, wie man der Radikalisierung junger Menschen begegnen kann, hat noch niemand gefunden. „Das ist schwierig, weil der Grund des Abtriftens meistens unklar ist“, sagt Salomon. Die Betroffenen kämen aus allen Schichten und Bevölkerungsteilen. Das bestätigt auch Florian Endres vom BAMF. 55 Prozent der bei der Beratungsstelle Rat Suchenden kämen aus klassischen deutschen Familien. 45 Prozent hätten einen Migrationshintergrund.

In einem Punkt sind sich die Experten einig: Von zentraler Bedeutung für die Radikalisierung ist das Internet. Dschihadisten nutzen das Netz und soziale Netzwerke, um dort Jugendliche zu rekrutieren. Wie man diesem Phänomen entgegentritt – auch dazu fehlen bisher die Konzepte. Ein sogenanntes Schwerpunktprojekt zu diesem Thema soll vom Bundesfamilienministerium einen Etat von 300 000 Euro erhalten.

Die französische Regierung versucht, die Extremisten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Sie veröffentlichte ein eigenes Video. Dieses hat den Anschein eines üblichen Hasspropaganda-Filmes. Doch die Jubelbilder der IS-Kämpfer wechseln sich mit drastischen Eindrücken aus den Kriegsgebieten ab – dazu gibt es Botschaften der französischen Regierung, was die Jugendlichen tatsächlich erwartet. „In Wirklichkeit wirst du die Hölle auf Erden erleben – und einsam sterben.“