Ausschnitt aus einem Dschihadisten-Video: Frauen trainieren in Syrien mit dem Sturmgewehr Kalaschnikow. Foto: Syriadeeply.org

Die größte Gefahr, sagen Terrorismusforscher, gehe bei zukünftigen Terroranschlägen in Europa und den USA vor allem von selbst radikalisierten Muslimen, gut ausgebildeten Syrienveteranen und Dschihad-begeisterten Frauen aus.

Stuttgart - Mancher rieb sich die Ohren, als er dem Chef der europäischen Polizeibehörde Europol zuhörte. Rob Wainwright sprach dem Islamischen Staat (IS) „neue gefechtsartige Möglichkeiten“ zu. Mit diesen sei die Terrororganisation in der Lage, weltweit „eine Reihe groß angelegter Terroranschläge“ zu verüben: zeitgleich ablaufende Angriffe auf Zivilisten wie bei den Attentaten von Paris im vergangenen November und im indischen Mumbai im Jahr 2008 . Die Anschläge radikalisierter Islamisten, sagte der britische Europol-Direktor in bislang nicht gekannter Offenheit, würden sich künftig „international ausrichten und werden von Spezialkräften ausgeführt“.

Der IS könne jederzeit an nahezu jedem Ort zuschlagen – gegen fast jedes gewählte Ziel. Dabei seien Anschläge etwa auf Nuklearanlagen oder Bahnhöfe zumindest „zurzeit weniger wahrscheinlich“. Eher hätten die Terroristen „softe Ziele“ im Visier – Menschen in Fußgängerzonen oder bei Veranstaltungen wie Konzerten und Festen.

Die Al Qaida

Wissenschaftler der US-Denkfabrik „Institut für die Erforschung von Kriegen“ sind sicher, das die Gefahr für Anschläge in Europa vor allem den beiden verfeindeten Organisationen Al Qaida (AQ) und dem IS ausgeht.

Dabei geht Jennifer Cafarella von zwei unterschiedlichen Szenarien aus. Al Qaida, sagt die Politikwissenschaftlerin, werde den Westen mit „einsamen Wölfen“ angreifen. Junge Frauen und Männer, die sich oftmals unerkannt radikalisierten und ihre Anschlagstatik auf einschlägigen Websites im Internet erlernt hätten. „Die Anschläge von Boston 2013 und San Bernardino im vergangenen Jahr sind Beispiele für derartige Attacken“, sagt sie. Ziel der Attentate sei es, „Rache für die Kriege in Afghanistan, im Irak und Somalia zu nehmen und den Westen dazu zu zwingen, seine direkten und indirekten Kriege im Nahen und Mittleren Osten einzustellen“.

Der Islamische Staat

Ein anderes Ziel verfolge der IS. Dessen Terroristen komme es darauf an, vor allem in der Zivilgesellschaft weltumspannend eine „einzigartige Atmosphäre des Terrors zu schaffen“. Damit solle die Wirkung der Anschläge vom 11. September 2001 noch übertroffen werden. Der IS werde versuchen, für seine Anschläge daher künftig die Attentate „einsamer Wölfe“ mit Operationen gut ausgebildeter Veteranen aus dem Irak- und Syrienkrieg „zu verknüpfen“.

Das Szenario dazu beschrieb der Sprecher des IS, Abu Mohammad al Adani, schon im September 2014: „Wenn ihr keine Bomben oder Patronen zur Verfügung habt, findet einzelne Ungläubige, zertrümmert ihre Schädel mit Steinen. Schlachtet sie mit Messern ab, oder überfahrt sie mit euren Autos. Werft sie von einem hohen Platz herunter, erstickt oder vergiftet sie.“ Beispielgebend sind die Anschläge von Paris im Januar und November 2015 sowie in Brüssel 2014.

Die Veteranen

Je stärker die islamistischen Terrorgruppen in Syrien und dem Irak in die Defensive gerieten, sagt Eitan Asani, israelischer Terrorismusforscher, würden kriegserfahrene Kämpfer zurück in ihre Heimatregionen kehren. Auch und gerade mit dem Ziel, unentschlossene Muslime, die bislang keinen Anschluss an den Dschihad fanden, im Umgang mit Waffen, Sprengstoff und auch taktisch zu schulen: „Mir macht in diesem Zusammenhang besonders der instabile Balkan Sorgen.“

Die Frauen

Frauen, sind sich internationale Terrorismusexperten sicher, werden bei zukünftigen Anschlägen islamischer Terrororganisationen eine deutlich größere Rolle spielen, als dies bisher der Fall war. „Gerade der IS hat das operative Potenzial von Frauen erkannt: Sie passen in Europa noch nicht ins Muster islamistisch motivierter Anschläge“, sagt US-Terrorismusexperte Sebastian Gorka.

Eine Einschätzung, die die französische Rechtsanwältin Samia Maktouf teilt. Sie vertritt Opfer und Hinterbliebene der beiden Terrorangriffe von Paris im vergangenen Jahr sowie von Toulouse im März 2012. Frauen, hat die Juristin bei ihrer Arbeit festgestellt, hätten bei diesen Attentaten eine entscheidende Rolle gespielt: „Sie agieren als Stützpfeiler der Terroristen.“ Etwa ein Drittel aller aus Frankreich stammenden Dschihadisten in Syrien und dem Irak seien inzwischen Frauen: Von den etwa 600 Kriegsreisenden, die das Innenministerium in Paris Ende 2015 im Nahen und Mittleren Osten wähnte, sollen 220 Frauen sein.

So habe, erzählt Anwältin Samia Maktouf, Souad Merah ihren Bruder Mohammed indoktriniert und letztendlich zu dem Anschlag in Toulouse angestiftet: Vier Juden, drei von ihnen Kinder, sowie drei französische Soldaten wurden dabei getötet. Und auch der Drahtzieher der Pariser Attentate vom 13. November, Abdelhamid Abaaoud, wurde von seiner Cousine Hasna unterstützt. Sie mietete den Unterschlupf nahe der französischen Hauptstadt an, wo Abaaoud sich versteckte und neue Anschlagspläne ausheckte. Hasna starb im Kugelhagel an der Seite ihres Vetters, als Elitepolizisten das Versteck nördlich der französischen Hauptstadt in Saint Denis stürmten.

Deutschland

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) weiß von mehr als 150 Frauen unter den 760 Islamisten, die das Bundesamt für Verfassungsschutz offiziell auf den Schlachtfeldern im Irak und in Syrien wähnt. Für den deutschen Inlandsgeheimdienst offenbar ebenfalls eine besorgniserregende Zahl: Im vergangenen September gab er die Broschüre „Dschihadistinnen und ihre Rolle bei der Anwerbung von Frauen für den ‚Islamischen Staat‘“ heraus, um vor dem Phänomen zu warnen.