Blumen am Ort des Attentats: Am Gefallenendenkmal in Ottawa starb ein Soldat Foto: dpa

Es war offenbar doch nur einer und er hatte nur ein Gewehr. Dennoch gelang einem 32-Jährigen ein Angriff auf das Parlament Kanadas. Wer war der Mann? Und hätte seine Bluttat verhindert werden können?

Ottawa - War es ein Islamist oder ein Verrückter? Nach dem Angriff auf das Parlament in Ottawa fragten sich das die Kanadier. Auch am Tag nach der Attacke mit einem toten Opfer und einem toten Täter sind viele Fragen noch ungeklärt, doch die Antwort könnte lauten: Möglicherweise war er beides. Nach und nach verdichtet sich das Bild eines Menschen, der vom Islam angezogen war, von Bekannten aber auch als verwirrt bezeichnet wurde.

Kanada gilt gemeinhin als friedliches und beschauliches Land irgendwo am Rande des Weltgeschehens. Das Land ist für seine grandiosen Landschaften bekannt, für seinen Reichtum an Rohstoffen und seine gut gemeinten Friedenseinsätze auf der ganzen Welt, weniger für Hass und Terror. Die Kanadier selbst gelten als liberal, aufgeschlossen und weitgereist, nicht als Scharfmacher oder Radikale.

Der Anschlag in Ottawa trifft sie daher bis ins Mark. Seit der Oktoberkrise in den siebziger Jahren, als radikale Separatisten aus der überwiegend französischsprachigen Provinz Québec das Land mit Terroranschlägen überzogen, haben die Kanadier keine vergleichbare Krise mehr erlebt wie die in dieser Woche.

Das Denkmal für die kanadischen Gefallenen aller Kriege steht gleich beim Regierungsgebäude in Ottawa, nur auf der anderen Seite der Straße. Am Mittwochmorgen schoss ein ganz in schwarz gekleideter Mann einen der beiden Ehrenwache stehenden Soldaten nieder. Dann reckte er Augenzeugen zufolge triumphierend seine Faust. Das Opfer, ein Reservist, starb Stunden später im Krankenhaus. Der Vater eines sechs Jahre alten Jungen wurde 24 Jahre alt.

Der Sicherheitschef des Parlaments schoss den Attentäter nieder

Der Angreifer gelangte in das Parlament, durch dessen steinerne Gänge Dutzende Schüsse hallten. Premierminister Stephen Harper und die Chefs der drei anderen großen Parteien waren im Haus, wurden aber schnell in Sicherheit gebracht. Letztlich war es der Sicherheitschef des Parlaments selbst, der den Mann niederschoss - unmittelbar vor dem Sitzungssaal. Bisher kannten die Kanadier nicht den Namen von Kevin Vickers, nur die Bilder, wenn er vor Parlamentssitzungen das alte Zepter in den Saal trägt. Jetzt ist der 58-Jährige ein Held.

Der Mann mit der Brille und den weiß-grauen Haaren stammt aus der ländlichen Provinz Neubraunschweig, wo er sein erstes Taschengeld als Milchausträger im Betrieb seines Vaters verdiente. Später arbeitete er 29 Jahre lang als Beamter in der königlich-kanadischen Polizei, klärte Morde auf und kümmerte sich um Drogendelikte. Danach kam er nach Ottawa, zunächst als Sicherheitsdirektor im Unterhaus. Seit acht Jahren ist er „Sergeant-at-Arms“.

Der etwas altertümliche Titel ist in vielen Demokratien britischer Prägung üblich und könnte auch als Zeremonienmeister übersetzt werden. Zu Vickers vornehmlichen Aufgaben gehört es nämlich auch, vor jeder Parlamentssitzung den goldenen Zepter des Landes in einer feierlichen Zeremonie in den Sitzungssaal zu bringen. Wie viele Kanadier ist auch Vickers von einer offenem Parlament überzeugt. Wann immer möglich lässt er auf dem Rasen davor Kinder spielen, erlaubt Picknicks und Joga-Sitzungen. Einen Sicherheitszaun lehnte der Sicherheitsmann bisher ab.

Der Angreifer soll sich vom Islam angezogen gefühlt haben

Und der Angreifer? Michael Zehaf-Bibeau soll er heißen und 32 Jahre alt sein. Er hat eine Vergangenheit mit Vorstrafen und Drogen. Das melden kanadische Medien, die Polizei sagt nichts. Zehaf-Bibeau wurde in Kanada geboren, soll aber auch einige Zeit in Libyen gewesen sein. Er habe sich vom Islam angezogen gefühlt und öfter eine Moschee besucht. Also ein hartgesottener Islamist? „Ich denke, er war geisteskrank“, zitiert die „The Globe and Mail“ einen Freund. Zehaf-Bibeau sei ihm nicht extremistisch erschienen, habe aber oft davon gesprochen, vom Teufel verfolgt zu werden.

Haben die kanadischen Sicherheitsbehörden versagt? Zehaf-Bibeau war als „Reisender mit hohem Sicherheitsrisiko“ eingestuft, ganz unbekannt war er also nicht. Laut US-Sender CNN steht er auf einer Liste von 90 Terrorverdächtigen, die beobachtet werden. Der britische „Guardian“ schrieb von einem „spektakulären Versagen“ des Geheimdienstes. So habe Michel Coulombe, Direktor des Canadian Security Intelligence Service (CSIS), erst vor zwei Wochen vor dem Parlament gesagt, die Gefahr terroristischer Anschläge sei real, es gebe aber kein Anzeichen für ein bevorstehendes Attentat. Der US-Sender NBC warnte jedoch Anfang Oktober unter Berufung auf kanadische und US-Geheimdienstkreise vor möglichen Anschlägen mit Messern oder Schusswaffen.

130 Kanadier ließen sich von Terrorgruppen im Ausland ausbilden 

Der CSIS berichtet, dass allein in den vergangenen Jahren mindestens 130 Staatsbürger ins Ausland gereist sind, um sich dort von Terrorgruppen ausbilden zu lassen und Anschläge zu verüben. Wahrscheinlich sind es mehr. Rund 80 von ihnen sind wieder nach Kanada zurückgekehrt, wo sie ihr radikales Gedankengut weiter pflegen. Die Bundespolizei ermittelt derzeit in 63 Fällen gegen einheimische Dschihadisten. Mit dem Entzug von Reisepässen versuchen die Behörden, deren Bewegungsfreiheit einzuschränken. Die Polizei kann durchaus Erfolge vorweisen. Im April 2013 nahm sie zwei Islamisten fest, als diese einen Anschlag auf einen Fernreisezug der kanadischen Bahngesellschaft Via Rail planten.

Konnte man die Pläne eines Verwirrten ahnen? Oder war Zehaf-Bibeau doch kaltblütiger, als es zunächst den Anschein hatte? Sein Ziel wird er aber vermutlich nicht erreichen. Kanada ist stolz darauf, dass seine Institutionen nicht wie in den USA zu Festungen ausgebaut sind. Und so soll bleiben, versicherten Politiker. Premier Harper beteuerte, dass sich Kanada nicht einschüchtern lasse. Kanada ist an den Luftschlägen gegen die Terrormiliz Islamischer Staat beteiligt. Nach der „brutalen und gewalttätigen Tat“ setzt Harper auf eine Politik der harten Hand an der Seite der USA – und will das Engagement Kanadas im Kampf gegen den Terrorismus verdoppeln.