Zwei israelische Grenzpolizisten in einem Süßigkeiten-Laden in Jerusalem: Hier versuchte im Oktober ein 13-jähriger Palästinenser einen 13-jährigen jüdischen Israeli zu erstechen Foto: dpa

Fast täglich greifen derzeit radikale Palästinenser Israelis an. Was das mit den Menschen macht? Einblicke in eine gespaltene Gesellschaft.

Jerusalem - Die Straße Emek Refaim in Jerusalem ist normalerweise ein belebter Ort. Cafés und Restaurants reihen sich hier, im Stadtteil „German Colony“, aneinander. Dazwischen gibt es kleine Läden, in denen man Schmuck kaufen kann oder Granatäpfel aus Ton, eines der Symbole Israels. Manchmal finden Feste und Märkte statt – dann wird auf der Straße ausgelassen getanzt und gesungen.

Derzeit ist die Emek Refaim eine eher ruhige Straße. Seit in Israels Hauptstadt fast täglich junge Palästinenser Juden angreifen, ist in den Restaurants wenig los. Die Läden sind oft leer, die Verkäufer stehen rauchend davor – und fragen sich vielleicht, ob sie demnächst schließen müssen. So, wie viele Kollegen während der letzten Intifada, dem Aufstand der Palästinenser von 2000 bis 2005.

In den 1558 Tagen der – nach der Moschee auf dem Tempelberg benannten – Al-Aqsa-Intifada kamen mehr als 1000 Israelis sowie rund 3500 Palästinenser ums Leben. Sie starben bei Selbstmordattentaten, Schussüberfällen, Bombenanschlägen und Raketenangriffen. Die jetzige Gewaltwelle dauert bereits rund zwei Monaten an. Als Auslöser gilt das Gerücht, Israel wolle die Gebets- und Besuchsrechte auf dem Tempelberg zu seinen Gunsten ändern. Und obwohl die israelische Regierung dies dementiert, reißen die Anschläge nicht ab.

Goldschmidt fährt nicht mehr durch arabische Dörfer

Einer, der trotz allem noch immer gerne einen Kaffee trinkt auf der Emek Refaim, ist Hagai Goldschmidt. „Ich will mich in meinem Alltag nicht allzu sehr einschränken lassen“, sagt der 62-jährige Historiker aus Jerusalem. Deshalb geht er weiterhin ins Konzert oder Theater – und eben auch in Restaurants. Aber er spürt, wie die Angst grassiert, wie viele lieber Zuhause bleiben. Ein paar Sicherheitsvorkehrungen trifft auch Goldschmidt. Er meidet derzeit zum Beispiel Landstraßen, die durch arabische Dörfer führen. Und auch in die Jerusalemer Altstadt, wo Juden, Muslime und Christen dicht an dicht leben, würde er derzeit nicht unbedingt gehen.

Yonah Rubin, der mit seiner Frau Anabella in einem kleinen Dorf außerhalb von Jerusalem lebt, geht derzeit gar nicht mehr ins Stadtzentrum. Und das, obwohl der 32-jährige Kindergärtner weiß, dass die Attacken auch anderswo passieren können. Ansonsten versucht aber auch er, sein Leben so normal wie nur irgend möglich weiterzuführen: „Ich treffe mich auch jetzt noch mit Freunden, gehe hin und wieder Hummus essen in einem der umliegenden arabischen Dörfer.“

Hier, im Hinterland Jerusalems, wo die Grenze zum Westjordanland nur wenige Kilometer entfernt liegt, sind die arabischen und jüdischen Gemeinden eng miteinander verzahnt. Die Menschen leben oftmals in denselben Vierteln, sie fahren auf denselben Straßen zur Arbeit und treiben Handel miteinander. Dass ein Israeli in einem arabischen Gewürzladen Paprikapulver oder Cayennepfeffer einkauft, gehört zum Alltag. Zumindest war das bisher so. „Jetzt haben alle Angst“, sagt Rubin. „Jeden Tag passiert etwas. Wir leben ständig in Sorge, vor der eigenen Haustür erstochen zu werden. Oder mit einem Auto überfahren zu werden. Man kann nie wissen.“

Häufig sind es minderjährige palästinensische Mädchen und Jungen, die mit Messer oder Scheren an gut besuchten Plätzen auf Menschen losgehen. In sozialen Medien wie Facebook, Twitter und WhatsApp kursieren Anleitungen zum Töten. Doch es sind nicht nur junge Menschen, die zum Messer greifen. Die Altersspanne der bisherigen Täter liegt zwischen elf und 51 Jahren – ein Umstand, der es stark erschwert, die Gefahrenlage einzuschätzen. Am Sonntag verletzte ein 38-Jähriger einen Polizisten mit einem Messer in Jerusalem, bevor er von einem anderen Beamten erschossen wurde.

20 tote Israelis, 100 tote Palästinenser

Vor allem in unübersichtlichen Umgebungen schlagen die Täter zu – wie etwa auf dem gut besuchten Mechane-Jehuda-Markt in Jerusalem . Dort attackierten vergangene Woche zwei Mädchen, 14 und 16 Jahre alt, Passanten. Ein 70-jähriger Palästinenser kam dabei ums Leben. Die Polizei reagierte auch hier mit aller Härte. Sie erschoss die eine, die andere überlebte mit schweren Verletzungen.

Mehr als 20 Tote forderte die Gewalt der vergangenen Monate bisher auf israelischer Seite. Mindestens 100 Palästinenser starben, rund 1200 wurden in den vergangenen Wochen verhaftet. Eine Situation, aus der nur Verlierer hervorgehen können. Ein Ende der Angriffe ist dennoch nicht in Sicht.

Ein Großteil der israelischen Bevölkerung resigniert, zieht sich ins Privatleben zurück und hofft einfach darauf, dass die Gewaltwelle an ihnen vorüberzieht. So, wie in den vergangenen Jahren. Die Israelis haben gelernt, mit der ständigen Angst zu leben. „Ma la’asot?“ - „Was soll man machen?“, ist denn auch eine häufig gebrauchte Antwort auf die Frage nach dem Leben mit der Gefahr. Die Zahl der Angststörungen und Depressionen ist in Israel nicht höher als in anderen Industrienationen.

Psychologe: Israelis sind „Meister der Verdrängung“

Als „Meister der Verdrängung“ beschreibt der Psychoanalytiker Ofer Grosbard seine Landsleute. Sich selbst nimmt er von dem Phänomen nicht aus. In Grosbards Heimatstadt Haifa sprengte sich vor einigen Jahren ein Selbstmordattentäter im Bus in die Luft. „Jeden Tag gehe ich an der Gedenkstätte vorbei, die an die Kinder in diesem Bus erinnert“, sagt er. „Fast jeder hier kennt Leute, die verletzt wurden. Aber dann verdrängt man es wieder. Du denkst: Es wird mich schon nicht treffen. Das ist derselbe Mechanismus wie bei einer schlimmen Krankheit.“

Seit dem Jahr 2000 wurden nach Angaben des israelischen Außenministeriums knapp 10 000 Israelis bei Gewaltausbrüchen verletzt oder getötet. Auf Deutschland übertragen wären das grob gerechnet 100 000 Opfer. Was diese ständige Angst mit den Menschen machen wird, ist schwer zu sagen. Sehr wahrscheinlich wird die Zahl der politischen Hardliner weiter zunehmen.

Denn das Gefühl der steten Bedrohung von außen lässt viele nur in der Abschottung des Landes eine Lösung sehen, lässt sie nur im harten Durchgreifen der Polizei und des Militärs einen Weg für die weitere Existenz Israels erkennen. An eine Lösung, die auf Verhandlungen basiert, glauben viele nicht mehr. „Mit den Palästinensern können wir nicht reden! Das ist Zeitverschwendung“, sagt etwa Yaniv Melamed, 26-jähriger Massage-Therapeut aus Jerusalem. Und fügt, in Anspielung auf die Anschläge der Terrororganisation Islamischer Staats (IS) in Paris, hinzu: „Ich glaube, Europa wird bald merken, wogegen wir schon lange kämpfen! Extremistische Muslime wollen keinen Frieden.“

Zukunftsängste – Frust – Terror

Doch auch die derzeitige Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wirkt wenig interessiert daran, den Friedensprozess mit den Palästinensern weiter voranzutreiben. Die Bevölkerung im Westjordanland lebt seit den Friedensverhandlungen von 1993 unter ständiger Besatzung. Und muss, unter zum Teil gewaltigen Einschränkungen, dabei zusehen, wie sich die israelischen Siedler das Gebiet mehr und mehr einverleiben. Gaza, dieses Stückchen Erde so groß wie Hamburg, ist seit Jahren vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. Die Folge: Ablehnung gegenüber den übermächtigen Besatzern. Zukunftsängste. Perspektivlosigkeit. Frust. Terror.

Um dieses Muster zu durchbrechen, müsse miteinander geredet werden, sagt Psychoanalytiker Grosbard: „Nicht mit ihnen zu sprechen, ist für die Mitglieder einer kollektivistischen Kultur wie die der Palästinenser eine Form der Beleidigung, ein Ehrverlust.“ Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, kann allein deshalb keine Lösung für die angespannte Lage, für die Messerangriffe und Scherenattacken sein. Für Friedensgespräche, allerdings steht im Moment offenbar keine der beiden Seiten bereit. Sollte sich die israelische Bevölkerung also nicht plötzlich gegen die eigene Führung richten, bleibt ihr tatsächlich wohl nur eines: weiter abzuwarten.