Im hyperrealistischen Trailerpark – Szene aus „32 Rue Vandenbranden“ der belgischen Compagnie Peeping Tom Foto: Festival

Mit „32 Rue Vandenbranden“ eröffnet die belgische Compagnie Peeping Tom das Berliner Festival „Tanz im August“. Bei dem internationalen Gipfeltreffen zeitgenössischer Choreografien gastieren 150 Künstler aus 14 Ländern.

Stuttgart - „Peeping Tom“ nennt sich ein Spielfilm-Thriller von Michael Powell aus dem Jahr 1960, der damals seinem Hauptdarsteller schier den Kopf kostete. Niemand anderes als Karlheinz Böhm verkörperte in dem Skandalwerk einen Kameramann, der seiner Obsession auf geradezu obszöne Weise frönte: Während der Dreharbeiten setzte er seinen Opfern das Messer an die Kehle, um authentisch deren Todesangst aufs Bild bannen zu können – und danach ermordete er sie, um seine eigentliche Befriedigung erst in diesem Tötungsakt zu finden.

„Peeping Tom“ nennt sich auch ein belgisches Theaterkollektiv, das zwar erst im Nachhinein von der Existenz des gleichnamigen Kultfilms erfahren haben will, in einem Stück wie „32 rue Vandenbranden“ aber seine Inspiration nicht zuletzt aus einem Film bezieht – kein Wunder, wenn man mit Nico Leunen einen der bedeutendsten belgischen Filmcutter zum Dramaturgen hat. Er hat zweifellos die Regie und Choreografie von Gabriela Carrizo und Franck Chartier insofern beeinflusst, als er sein Wissen um die „Ballade von Narayama“ in das gemeinsame Projekt einbrachte.

Ein Gespann wie aus Becketts „Endspiel“

Der Film von Shohei Imamura, 1983 mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet, hat das Bühnenwerk inspiriert, ohne dass das auf eine äußerliche Weise erkennbar wird. Der erste Auftritt von Seoljin Kim und Hun-Mok Jung könnte noch aus der „Ballade“ stammen, wenn die beiden das Haus der Berliner Festspiele betreten: schwerbeladen, ein Männergespann wie aus Becketts „Endspiel“, das sich erst seinen Weg über die scheinbar schneebedeckte Bühne bahnen muss. Doch die Szene zeigt nicht die bergige Landschaft Japans, sondern einen Trailerpark, wie man ihn eher im Norden Europas vermuten würde. Hyperrealistisch, wie er ist, dient er allerdings als Hintergrund eines surrealen Dramas, in dem es gleichwohl um ganz menschliche Begierden geht, um Vereinsamung, nicht zuletzt aber auch um den Tod. Denn Kim, inzwischen ein Superstar in seiner koreanischen Heimat, kämpft nicht nur virtuos gegen einen imaginären Sturm an. Er beherrscht auch den eigenen Körper in einem Maße, dass er sich am Ende völlig aufzulösen scheint. Das Gesicht gerinnt zur Totenmaske. Sein Kopf verzerrt sich wie auf einem Fernsehbild, wenn der Empfang zu wünschen lässt. Und der Leib sackt schließlich so in sich zusammen, als wäre jedes Leben aus seiner Hülle gewichen.

Virtuos ist das gemacht, nicht ohne verzweifelten Witz, und immer so, dass es sich dem ambivalenten Ausdruck unterordnet: eine grandiose Vorstellung, die sich nie im Selbstzweck gefällt, sondern bis zuletzt auf faszinierende Weise ihr Geheimnis wahrt. Und ein Auftakt zum 28. Internationalen Festival „Tanz im August“, wie man sich ihn nur wünschen kann. 150 Künstlerinnen und Künstler aus 14 Ländern haben Virve Sutinen und Annemie Vanackere in diesem Jahr an unterschiedlichen Orten um sich versammelt, allerdings kann nicht alles den Erwartungen des Publikums gleichermaßen genügen. „Sunny“ von Emanuel Gat beispielsweise, erst vor wenigen Wochen bei der „Biennale Danza“ in Venedig uraufgeführt, entpuppt sich tatsächlich als das „privatistische Tanz-Event“, von dem in einer Kritik die Rede war, und auch andere Beiträge finden nicht immer den Anklang, den sich die Leiterinnen erhofft haben.

Was fehlt: das zeitgenössische Ballett

Doch noch ist der „Tanz im August“ ja im vollen Gange. Bis zum 4. September kann das Publikum von VA Wölfl über Lisbeth Gruwez, Deborah Hay und Meg Stuart ganz gegensätzliche Tanzpositionen kennenlernen. Bitter beklagt wurde allerdings bereits im Vorfeld die Nicht-Berücksichtigung des zeitgenössischen Balletts, das zur gleichen Zeit immerhin durch das Bundesjugendballett beim konkurrierenden Festival „Young Euro Classic“ präsent war – vor ausverkauftem Haus übrigens, ganz im Gegensatz zu seinem Gegenstück, dem Dance On Ensemble (für Tänzer und Tänzerinnen ab 40+). Das gastierte in Berlin zum ersten Mal mit vollem Programm, aber längst nicht so überzeugend, wie man das nach den Vorgaben eigentlich erwarten durfte. Anders als die „7 Dialogues“ im Anschluss war die Uraufführung von „Those Specks of Dust“ von Kat Válastur an Harmlosigkeit kaum zu toppen. Eine „Nacht im Ballettsaal“ stellt man sich jedenfalls anders vor, wenn Könner wie Ty Boomershine, Amancio Gonzales, Brit Rodemund, Jone San Martin und Ami Shulman ihre körperlichen Möglichkeiten wiederentdecken. Da wird William Forsythe mit „Untitled Duo“ (als Kreation am 7./8. Oktober im Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen angekündigt) Ausdruck- und Erfahrungshorizonte aufzeigen, die sich mit denen von Peeping Tom vergleichen lassen.

Bis 4. September. www.tanzimaugust.de