Tanz mit den Fingern: der Pianist Domingos Costas Foto: Veranstalter

Die spanische Kompanie Habemus Corpus verknüpft im Stuttgarter Theaterhaus in „Tempo (No) Tempo“ Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ verblüffend mit dem Schicksal von Migranten.

Stuttgart - Der Frühling steht für Aufbruch, fordert aber bisweilen grausame Opfer. Nirgendwo kommt das eindrucksvoller zum Ausdruck als in Igor Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ von 1913. Die spanische Kompanie Habemus Corpus hat sein expressionistisches Werk über heidnische Riten im alten Russland im Stuttgarter Theaterhaus überzeugend mit dem Schicksal von Migranten verknüpft. Am Montagabend hatte Miquel G. Fonts „Tempo (No) Tempo“ Premiere. Yseult Jost und Domingos Costa vom Duo Jost Costa präsentierten dabei Strawinskys „Frühlingsopfer“ in der Klavierfassung für vier Hände live. Von der Bühnendecke hängt die gesamte Partitur herab, wilde Striche durchkreuzen die Blätter. Die Besucher begegnen den Tänzern schon im Zuschauerraum, ein Akteur stellt sich ihnen sogar mit verbundenen Augen in den Weg. Sein unerschütterliches Vertrauen wird noch eine große Rolle spielen.

Die Handlung beruht auf einer wahren Begebenheit: Vier junge Menschen (Emmanuel Dobby, Mireia González, Emilie Assayag, Veronica Bracaccini) machen sich auf in ein fremdes Land. Was lassen sie zurück?, fragt eine Stimme, und die Tänzer antworten. Massive Gewalterfahrungen, aber auch harmonische soziale Beziehungen. Und was erwarten sie? - Die Spannbreite reicht von elementaren Bedürfnissen wie Gesundheit bis hin zu Ruhm. Dementsprechend unterschiedlich präsentieren sich ihre Tanzstile: kraftvoll-entschlossen bis angespannt-abgehackt. Auch die Finger der Pianisten tanzen - als gefilmte Projektion auf der Partitur. Die Tänzer erfahren an dem Abend enorme Verwandlungen, einer wechselt sogar das Geschlecht. Doch jemand fällt aus der Rolle: der messiasähnliche Mann mit den verbundenen Augen, der die anderen in ihrer Gefühlsaufruhr umarmt und auffängt. Warum, enthüllt sich am Ende. Miquel G. Font und dem Ensemble ist mit dem Abend eine verblüffende Uminterpretation des „Frühlingsopfers“ gelungen.