Vom Flachland-Indianer zum begeisterten Bergfex: Julius (5). Foto: Bisping

Die Natur als Spielplatz: Bei einer Familienwanderung am Fuß der Ortlergruppe in Südtirol entdecken die Kinder die Lust am Laufen.

Trafoi - Gute drei Stunden dauerte die Wanderung bereits. Erst schlängelte sich der Weg gemächlich bergan. Dann führte er beunruhigend nahe am Abgrund entlang, bis einige Höhenmeter zu klettern waren. Dabei boten an den Felsen befestigte Seile Halt. Es folgte ein sehr schmaler Pfad, der unmittelbar am Abhang verlief. Hier kamen drei Urlauber von vorn. Zu steil und steinig sei es hier, meinten sie, deshalb hätten sie kehrtgemacht: „Mit dem Kind müssen Sie auf jeden Fall umdrehen.“ Halb so schlimm, meinte das Kind. Der Knabe war den Weg bereits am Vortag gegangen - mit Stephan. Tatsächlich war der Weg zum Wasserfall trotz einiger banger Momente zwischen Steilhang und Abgrund zu schaffen.

Bald ging es talwärts, wo der Weg an der Kapelle bei den Heiligen drei Brunnen endete. Der Wallfahrtsort verdankt das Gotteshaus einer Marienerscheinung, die ein Holzfäller um das Jahr 1500 dazu bewog, den Baum zu schonen und neben ihm eine Kapelle zu bauen. Ein Bach, der sich aus drei Quellen speist, bildet hier mehrere Becken. Neben ihm rauscht der Gletscherfluss. In seinem Bett hüpften die Kinder von Stein zu Stein und schlürften das eiskalte Wasser. Die Route ist trotz „einiger exponierter Stellen“ als Familienwanderweg ausgewiesen und beweist, dass in Südtirol andere Maßstäbe gelten als nördlich der Alpen. Auch in den Dolomiten ist das so. Dort wird das 2313 Meter hohe Weißhorn „Gipfel der Fünfjährigen“ genannt: weil er so leicht zu erklimmen und deshalb der erste Berg ist, den kleine Kinder aus der Umgebung hinauflaufen. Dass sie laufen, steht außer Frage.

Diverse Tricks zur Motivation

Naturerleben und Bergwandern ist in Südtirol immer eins. Das fünfjährige Flachlandkind hatte noch keinen Gipfel bezwungen. Die zweckfreie Fortbewegung zu Fuß war vielmehr so unfassbar langweilig, dass man sich nach spätestens 400 Metern tragen lassen oder wenigstens ordentlich quengeln musste. Nun war es an der Hand des Vaters die ganze Strecke gelaufen und hatte der Mutter noch Mut zugesprochen. Was war geschehen? Stephan Gander, der mit seiner Frau Petra in fünfter Generation das in Trafoi im Nationalpark Stilfser Joch gelegene Hotel Bella Vista führt, hatte das Wander-Wunder bewirkt. Als Vater von vier Kindern mit pädagogischem Geschick gesegnet, kennt er nicht nur diverse Tricks zur Motivation, sondern überzeugt Wanderneulinge vor allem durch Begeisterung.

Der fünfjährige Wanderneuling, der von Kinderclubs noch nie etwas wissen wollte, lässt sich auch hier nicht für das Naturdetektiv-Programm gewinnen, mit dem die beiden hauseigenen Kinderbetreuerinnen spielerisch Einblick in das Wesen der Bergwelt vermitteln. „Aber die spannenden Sachen mit dem Stephan, die mache ich“, hatte er überraschend erklärt: Kinderpunsch am Lagerfeuer und die Dämmerungswanderung zu einer kleinen Hütte am Gletscherbach, wo die Kinder mit Stephan den Geräuschen der Nacht lauschen, das machte Spaß. Bei der Familienwanderung, die Eltern und Kinder zusammen unter Ganders Führung unternehmen, kommt erst gar kein Kind auf die Idee, übers Laufen zu klagen. Eine ganze Horde ist unterwegs, so dass man nicht gehen muss, sondern sich kindgemäß bewegt: also in der Ebene rennt und am Hang hüpft oder klettert.

Steilere Abschnitte gewinnen an Reiz, wenn Stephan zeigt, wo die Hand hinkommt und an welche Stelle dann der Fuß geht. Die Eltern können dabei erleben, dass die Sprösslinge anderen Leuten oftmals besser zuhören. Auch Tiere sind geeignet, die Aufmerksamkeit zu fesseln. Kommt gerade kein glockenklingendes Grauvieh des Wegs und lässt sich keine Gämse sehen, genügt eine Pflanze wie die Feuerlilie, die Stephan den Kindern zeigt. Ihre auffällige Färbung betrachten sie mit Interesse - denn wer hätte gedacht, dass hier Orchideen wachsen? Ein gefragter Experte bei der Stauung von Bächen ist auch Stephan Ganders Schwiegervater Gustav Thöni, einst erfolgreichster Skiläufer Italiens, mehrfacher Olympiasieger und Weltcup-Gewinner sowie neun Jahre lang Trainer von Alberto Tomba. Thöni läuft im Winter mit den Gästen Ski, im Sommer geht er mit den Kindern am Bach spielen.

Die Lust am Laufen lernen

Das Hotel in Trafoi ist das Haus seiner Kindheit. 1951 wurde er hier geboren. Da war es schon ein Traditionsbetrieb: 1875 wurde es erbaut, fortan wechselten an dieser Schnittstelle zwischen Ötztaler Alpen, Schweiz und der Lombardei Postkutschen die Pferde. Die Landschaft eignet sich nicht nur, um die Lust am Laufen zu lernen. Ihre geradezu archaischen Bilder machen sie auch zu einer Kulisse für Kindheitserinnerungen, die durchs ganze Leben tragen. Hinter dem Haus liegt ein Kirchlein zwischen Wiesen, auf denen im Sommer mit der Sense Heu gemacht wird. Dahinter erheben sich der 3905 Meter hohe Ortler, die Trafoier Eiswand und der Madatsch.

„Wir sind hier am Ende der Welt und am Anfang vom Paradies“, sagt Thöni. Es hätte anders kommen können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es im Tal ein Grandhotel, zu dessen Gästen Sigmund Freud und Stefan Zweig zählten, die Familien Krupp und Opel. Im Ersten Weltkrieg brannte es aus und wurde nie wieder aufgebaut. So liegt das Tal heute in tiefem Frieden. Für die Kinder beginnt das Paradies an der Tür zur Terrasse. Neben dem Garten mit Spielplatz liegt die Wiese mit der Feuerstelle und einem Tipi. Von hier führt ein Pfad zum Bach hinunter. Dort befindet sich die Hütte, an der die Dämmerungswanderung endet. Zäune gibt es nirgends.

Hier beginnt ein Reich ohne Autos, aber voller Abenteuer. Als das Licht der letzten Sonnenstrahlen am Abend die Spitze des Ortlers rosa färbt und es im Garten kalt wird, sind die Kinder noch immer unterwegs. Für viele Gästekinder ist dies das Spannendste: draußen spielen, bis es dunkel wird, und dann am Lagerfeuer Stockbrot rösten. Anderntags will das Kind tatsächlich wieder laufen. Stephan muss arbeiten. Aber mit den Eltern geht es nun ja auch.

Infos zu Südtirol

Anreise
Mit dem Auto über München, Innsbruck und den Brenner bis Bozen-Süd; von dort in Richtung Meran und über Stilfs nach Trafoi. Oder über den Reschenpass (via München, Innsbruck, Landeck zum Reschenpass und über Stilfs nach Trafoi). Bahnreisende fahren nach Meran; von dort mit dem Bus oder der Vinschgerbahn nach Spondinig ( www.bahn.de ).

Unterkunft
Im Wanderhotel Hotel Bella Vista in Trafoi kostet das Doppelzimmer mit Halbpension im Sommer ab 65 Euro pro Person, eine Suite mit getrenntem Kinderschlafzimmer ab 75 Euro pro Person. Zu bestimmten Terminen übernachten Kinder bis acht Jahren gratis im Zimmer der Eltern, www.bella-vista.it.

Sehenswürdigkeiten
Im Ortlergebiet befindet sich mit dem Messner Mountain Museum Ortles eines der fünf Museen des Bergsteigers Reinhold Messner. Thematischer Schwerpunkt ist das Eis. Öffnungszeiten: Mittwoch bis Montag von 14 bis 18 Uhr, im Juli/August von 13 bis 19 Uhr, Eintritt 6 Euro, Kinder von sechs bis 14 Jahren 3 Euro, Familienkarte 14 Euro, www.messner-mountain-museum.it .

Spannend ist das Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen, letzte Ruhestätte der Gletschermumie „Ötzi“. Heute kann man dort nicht nur die Mumie betrachten, sondern auch viel Interessantes über Ötzis Alltag und sein gewaltsames Ende erfahren, Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet, Eintritt 9 Euro, Kinder 7 Euro, Familienkarte 18 Euro, www.iceman.it.

Allgemeine Auskünfte
Südtirol Tourismus Information, Pfarrplatz 11, 39100 Bozen, Tel. 00 39 / 04 71 99 99 99,www.suedtirol.info.

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