Kurzfristiger Stress weckt die Widerstandskräfte und macht den Menschen leistungsfähiger. Foto: Alphaspirit/Fotolia

Wer nicht behaupten kann, unter Druck zu stehen, gilt heute als Faulpelz. Und der Burn-out gilt als ultimativer Ausweis von Leistungsfähigkeit. Von der ermüdenden Suche nach dem Glück.

Stuttgart - Zum Beispiel Lina und Josef Miller. Kleinbauern in der schwäbischen Provinz, erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schaffen von Sonnenauf- bis -untergang. Zwei Kühe, ein paar Säue und Hühner, ein Acker. Dazu acht Kinder und zwei Weltkriege. Freizeit, das ist, wenn man sonntags in die Kirche geht und danach ins Wirtshaus. Hätte man Lina und Josef Miller gefragt, ob sie Stress haben, sie hätten einen wahrscheinlich ziemlich misstrauisch angeschaut und gefragt, was der Mensch aus der Stadt ihnen verkaufen will.

Dabei beginnt die Geschichte des Stresses – oder zumindest des Begriffs – ungefähr zur selben Zeit. Der ungarisch-österreichische Mediziner Hans Selye veröffentlicht in den 30er Jahren erste Erkenntnisse über die Auswirkungen von Stress auf die menschliche Psyche und Physis. Geklaut hatte er das englische Wort aus der Physik, wo es eine Kraft bezeichnet, die auf ein Objekt wirkt. Selye verstand unter Stress Faktoren wie Hunger oder Lärm, aber auch Leistungsdruck und psychische Belastungen. Der Forscher beschrie, wie kurzfristiger Stress die Widerstandskräfte weckt und den Menschen leistungsfähiger macht. Aber er erkannte auch, dass dauerhafter Stress ohne Ruhephasen den Menschen krank machen kann.

Seither hat Selyes Begriff eine steile Karriere hingelegt. Rund 80 Jahre später können heute schon Grundschulkinder etwas mit dem Wort anfangen. Laut einer Forsa-Umfrage von 2013 im Auftrag der Techniker-Krankenkasse (TK) sagt jeder zweite Deutsche ab 18 Jahren von sich, er fühle sich manchmal oder häufig gestresst, nur jeder zehnte kennt dieses Gefühl nicht. Stress – so zeigt die repräsentative Studie – trifft Junge wie Alte, Frauen wie Männer, Schlecht- wie Gutverdiener, Land- wie Stadtbewohner, Eltern wie Kinderlose. „Gestresst zu sein gehört heute fast zum guten Ton“, schreibt Jens Baas, TK-Vorstandsvorsitzender, in seinem Vorwort zur Studie – und schlägt damit einen ungewöhnlich ironischen, fast schon kritischen Ton an.

Denn normalerweise dominiert zum Thema Stress eine eher apokalyptische Sichtweise. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt Stress zu den „größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts“. Er gilt unter anderem als Auslöser für Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Depressionen – und als Hauptgrund für das sogenannte Burn-out-Syndrom, das zwar keine offiziell anerkannte Krankheit, aber ein grassierendes Phänomen ist: Menschen fühlen sich ausgebrannt und erschöpft bis zur Arbeitsunfähigkeit. Knapp jeder Zehnte gilt seriösen Schätzungen zufolge in westlichen Industriestaaten als Burn-out-Kandidat. Das wären in Deutschland drei Millionen Menschen,

Burn-out als ultimativer Ausweis von Leistungsfähigkeit

Sind die Menschen also heute gestresster als noch zu Lina und Josef Millers Zeiten? Oder haben sie nur einen Namen für das gefunden, was die Kleinbauern vielleicht noch als gottgegeben hingenommen hatten? Nicht nur Krankenkassenvorstand Baas beschleicht das Gefühl, Stress sei so eine Art Must-have westlicher Befindlichkeit geworden. Vor allem zum Burn-out-Syndrom gibt es kritische Stimmen, die von einer Modediagnose sprechen. Der Autor Hilmar Klute veröffentlichte 2012 das Buch „Wir Ausgebrannten. Vom neuen Trend, erschöpft zu sein“. Darin beschreibt er Burn-out als ultimativen Ausweis von Leistungsfähigkeit, den man vor sich herträgt wie einen Orden. „Wer einmal gebrannt hat, kann sich brüsten, Burn-out zu haben, weil er an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gegangen ist. Zum Burn-out hat man sich hingearbeitet, hat also etwas Positives gemacht“, sagte Klute damals im Interview.

Man muss es vielleicht nicht gleich so polemisch sehen wie der Autor. Es reicht aber ein Blick ins eigene Umfeld, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Umgang mit Stress heute fast schon etwas Liebdienerisches hat: Im Büro versichern sich die Kollegen gern und häufig gegenseitig, wie gestresst sie doch sind. Dass sie in der Zeit des Jammerns eine erholsame Kaffeepause hätten einlegen können – geschenkt. Oder die Freunde: Ein Treffen abzumachen geht nicht ohne Kalender und sechswöchige Vorlaufzeit. Unter der Woche: Arbeiten, Einkaufen, Yogastunde. Wochenende: Arbeiten, Marathonlaufen, Städtetrip, Promotion, Brotbackkurs. Ähnliches gilt für die Großeltern im Unruhestand. Nicht mal die jungen Mütter und Väter in Elternzeit machen es sich gemütlich. Hetzen zwischen Babyschwimmen, Pekip-Treffen, Breikochkurs, Kinderostheopath und Ökotestlektüre hin und her. Die Suche nach der Work-Life-Balance kann ganz schön erschöpfend sein.

Tatsächlich ist es längst nicht mehr nur eine veränderte Arbeitswelt, die die Leute unter Strom setzt. Klar, ständige Erreichbarkeit und Termin- und Leistungsdruck können anstrengend sein, aber viel geschafft haben Lina und Josef Miller auch. Heute kommt die unbegrenzte Zahl der Freizeitmöglichkeiten dazu. Freizeit sei „zum Gegenteil von freier Zeit geworden: Zeit, die wir nutzen müssen, besser einteilen, effektiver managen“, schreibt der Autor Ulrich Renz in „Die Tyrannei der Arbeit“. Letztlich sei die freie Zeit „vom Prinzip Arbeit kolonisiert worden“. Auch in der Freizeit gilt der, der nicht behaupten kann, unter Strom zu stehen, als Minderleister.

„Menschen bemessen Glück heute daran, wie viele Optionen sie haben“

Der Soziologe Hartmut Rosa versucht dieser Rastlosigkeit auf den Grund zu gehen. Er beschreibt den Bewohner westlicher Industrienationen als einen, der auf der Suche ist: nach mehr „Möglichkeiten, Handlungen, Erlebnisepisoden“. Warum? Weil er in postindustriellen Epoche kaum andere sinn- und glücksstiftende Momente hat. Gott ist abgeschafft, Kaiser und Diktator auch – mit ihnen die großen Ideologien.

Der Mensch ist also auf sich selbst gestellt, er ist autonom und bedarf neuer Glücksquellen: „Menschen bemessen Glück heute daran, wie viele Optionen sie haben“, sagt Hartmut Rosa, der zum Thema Zeit, Beschleunigung und Identität forscht. Das Glück steigt also mit der Anzahl der Freunde auf Facebook, Euro auf dem Konto, Geräte im Fitnessstudio (ob man nun hingeht oder nicht), Sexualpartner, Funktionen des Smart-TVs, bereisten Länder und belegten Babykurse. Je mehr Optionen, umso höher der Status, umso größer aber auch der Stress. So wird Stress zum Statussymbol des postmodernen Glücksritters.

In dieselbe Richtung argumentiert der Philosoph Byung-Chul Han, der in Berlin lehrt. Der Mensch breche heute unter der Last seiner unendlichen Möglichkeiten zusammen, schreibt Han 2010 in seinem Essay „Müdigkeitsgesellschaft“. Ohne Verbote und Regulierung, ohne wirkliche Bedrohungen von außen leide das „Leistungssubjekt“ an zu viel Positivität: Es kann alles – bis es nicht mehr kann. Und so ist der Burn-out-Geplagte einer, der sich freiwillig ausbeutet.

Sind wir also selber schuld, wenn wir nachts, nach einem langen Arbeitstag, kurz nach dem letzten Facebook-Post vom selbst gemachten, natürlich veganen Abendessen, mal wieder völlig erschöpft ins Bett sinken? Ist es so einfach? Nicht ganz. Denn schon vor gut 100 Jahren wurde bei Menschen eine als Neurasthenie bezeichnete Krankheit diagnostiziert. Ärzte verstanden darunter eine durch Zeitmangel und hohes Tempo ausgelöste Nervenschwäche. Hartmut Rosa erkennt Ähnlichkeiten zwischen der Epoche damals und heute: „Es zeigt sich ein spürbarer Beschleunigungsschub zwischen 1880 und 1920, als viele epochale Innovationen eingeführt werden – elektrisches Licht, Telegrafie, Straßenbahnen, Rundfunk. Und schon damals meinen Menschen, die Geschwindigkeit sei zu hoch.“ Innovative Epochen beschleunigen also auch das Leben jedes Einzelnen. Man kann das beklagen. Man kann das auch so sehen: ohne Stress kein Fortschritt.

Abschalten heißt der Schlüssel zum Glück

Bleibt die Frage, wie man umgehen soll mit dem ganzen Gehetze. Und – so man das denn will – ob man dem entkommen kann. Die Ratgeber kennen viele Rezepte: von der Meditation bis zur homöopathischen Medikation. Vom Sport über die Zeit mit den Lieben bis zum Rumgammeln auf dem Sofa. Abschalten heißt der Schlüssel zum Glück, den Computer, das Smartphone, am besten gleich den vollen Kopf.

Nicht ganz so banal sieht Hartmut Rosa das Problem. Dass zum Beispiel die Trümmerfrauen nicht unter Burn-out litten, liegt für den Zeitforscher nicht nur daran, dass sie das Wort nicht kannten. Sie hatten Zielhorizonte, sagt Rosa, also „die Hoffnung, irgendwann wird der Trümmerberg abgebaut sein, irgendwann wird ein neues Haus dort stehen – und die Welt wird besser sein“. Etwas, was den Menschen heute fehle: „Optimierung kennt keine Ziellinie. Man kann Quartalszahlen in Unternehmen, Quoten in den Medien, Publikationslisten in den Wissenschaften und auch den Body-Mass-Index immer weiter verbessern. Völlig gleichgültig, wie effizient, innovativ, groß wir heute sind – morgen müssen wir noch eine Schippe drauflegen, wenn wir unseren Platz halten wollen.“

Müssen wir uns also die Kleinbauern Lina und Josef Miller als die glücklicheren Menschen vorstellen? Weil sie keine andere Option hatten als ihren schwäbischen Hof, weil sie kein Fitnessstudio-Abo hatten, aber dafür ein Ziel, nämlich den Abend in der warmen Stube auf der Ofenbank? Das wäre wohl ziemlich anmaßend. Und wer weiß, vielleicht konnten Lina und Josef Miller mit dem Wort Stress ebenso wenig anfangen wie mit dem Wort Glück.