Blick auf Stuttgart von der Neuen Weinsteige aus Foto: Kern/Kraufmann

Der Stuttgarter Architekt Roland Ostertag wirbt für einen neuen Umgang mit Stuttgarts Dächern, der „fünften Fassade“ der Stadt. Ein Lobgesang auf die "willkürliche Ansammlung unproportionierter Flächen".

Die naturbedingte Bedürftigkeit des Menschen, seine unzulängliche Eignung, ohne Hilfsmittel zu überleben, zwingen ihn, den Naturraum an seine Bedürfnisse anzupassen. Der architektonische Raum ist immer eine Modifikation des Naturraums. Er wird stets durch materielle Grenzen „definiert“, durch ein „Dach“. Ursprünglich war das Dach nicht „nur“ der obere Abschluss eines Hauses, sondern eine selbstständige Konstruktion, war die Urform des Hauses, älter als das Haus, war das Element der Architektur. Etymologisch zeigt sich dies in der Verwandtschaft des (altgermanischen) Begriffs „Dach“ mit dem griechischen Wort „tégos“, das zugleich Dach und Haus bedeutet und das „Deckende“ als „Beschützendes“ meint. Diese Bedeutung steckt ja noch in der übertragenen Verwendung des Begriffs: z. B. „unter dem Dach Europas, der UN“, „über den Dächern von . . .“, „gedacht als Dach . . .“, „Dachorganisation“, „Dach der Welt“. Umgangssprachlich suchen wir mit dem Obdach Sicherheit, wir wollen etwas unter Dach und Fach bringen.

So entstehen Körper und Raum, ein Oben und ein Unten, ein Innen und ein Außen, vertikaler und horizontaler Schutz. Das Dach nur noch obere Abdeckung des durch die vertikalen Elemente/Wände gebildeten Baukörpers, des Hauses. Nur sie sind das Gesicht des Hauses nach außen, die Fassade. Nur um die Gestaltung dieser vertikalen Fassade, die wir stehend, in Augenhöhe erleben/sehen können, kümmerten sich die Architekten in allen Kulturbereichen. In Bau-, Kunstgeschichtsbüchern werden fast nur diese Ansichten/Fassaden, neben den Grundrissen, abgebildet, die Ansicht der oberen, der horizontalen Abdeckung, des Daches, der „fünfte Fassade“, ist kaum der Erwähnung, der Bemühung wert.

Diskussion über Dächer hat Tradition

Mit dem Dach lassen sich symbolischer Anspruch, Macht oder ästhetische Absichten nicht darstellen. In der Alltagsarchitektur Ergebnis aus inneren, aus konstruktiven, materiellen Überlegungen, Notwendigkeiten, meist aus ihrer Funktion als Regen-, Wind-, Sonnenschutz, als geneigtes, als Satteldach.

In Deutschland hat die Diskussion über das richtige Dach Tradition. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde nur dem geneigten, dem Satteldach das Attribut Dach zuerkannt, dem flachen Gebäude-Abschluss nur widerwillig.

Für Paul Schultze-Naumburg, Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, später Vertreter einer von rassistischen Ideen geprägten bodenständigen Bau- und Kunstauffassung im Sinne des Nationalsozialismus, billigte in seinem Pamphlet „Flaches oder Geneigtes Dach“ nur dem Haus mit geneigtem Dach die Berechtigung, abendländisches, nordisches Haus zu sein. Das Haus mit flachem Dach wurde als „südländisches Gebilde“, als „Bauverwilderung“ bezeichnet. Die neuen Häuser sollten „mächtige Dächer besitzen, deren Ziegelhaut sich wie über einem lebenden Wesen fleckig und schuppig wölbt und spannt“.

Paul Bonatz schwärmte von der „Dachlosigkeit“ der Weißenhofsiedlung

Doch selbst Paul Bonatz konnte noch 1927 der „Dachlosigkeit“ der Weißenhof-Siedlung einiges abgewinnen: „In derartig gegliederten Kuben“, so Bonatz, „ist es schlechterdings nicht möglich, eine hässliche Gesamtwirkung zu erzielen, alles verbindet sich zu einer gewissen Einheitlichkeit. Wenn man sich vorstellt, dass Stuttgart über Nacht in diesem Sinne umgestaltet wäre, anstelle verkrüppelter und hässlicher Dächer, anstelle sinnloser Verzierungen und trüber Backsteine nur gegliederte Kuben in sauberen Farben, so wäre das ein phantastisch schönes Stadtbild.“

Die ambivalente Einschätzung der „fünften Fassade“ setzt sich bis heute fort. Beim Entwerfen an den Hochschulen, bei Diskussionen über Architektur, über Gebäude, über Städte in Fachzeitschriften, in den Feuilletons, bei „Architektur-Quartetten“ wird sie kaum einbezogen. Bei den Baugesuchen, bei Wettbewerben wird ihre Darstellung selten verlangt. Die Bemühungen der Architekten um die Gleichberechtigung der Gestaltung der „fünften Fassade“ mit den vertikalen Fassaden sind dementsprechend bescheiden.

Dies führte zu keinen Nachteilen, solange die Nutzungs-, die Konstruktions-, die Material- und die gesellschaftliche Gebundenheit gegeben waren. Die Ansammlung ähnlicher, kleinmaßstäblicher, differenzierter Häuser führte zu der überschaubaren, homogenen Steildachlandschaft, dominiert, unterbrochen von den gesellschaftlich bedeutsamen Baukörpern der Kirchen, der Rathäuser, der Zunfthäuser, der Museen.

In Stuttgart hat die gesamte Stadt eine „fünfte Fassade“

In manchen Städten, etwa in München, wurde das Dach bald als willkommenes ausbaufähiges Volumen für eine Innenstadt- Verdichtung ohne zusätzlichem Flächenverbrauch erkannt.

Die Dachfrage und -qualität ist für Stuttgart, ist für unsere Stadt von besonderer Bedeutung. Bedingt durch seine Topografie haben in Stuttgart nicht nur die einzelnen Häuser eine „fünfte Fassade“, sondern die gesamte Stadt. Bis zur Zerstörung der Innenstadt durch Krieg und Planung führten die Stuttgarter ihre Besucher bereits tagsüber auf die Höhen, um die Stadt, um diese einmalige Stadt-, Dachlandschaft zu zeigen. Diese Besichtigung wurde nach Einbruch der Dunkelheit wiederholt, um das großartige Lichterpanorama vorzuführen. Etwas übertrieben wurde Stuttgart gelegentlich als das „deutsche Florenz“ bezeichnet.

Willkürliche Ansammlung unproportionierter Flächen

Doch heute ist es mit dieser Pracht, dieser Einschätzung weitgehend vorbei. Zerstörungen durch Krieg und Planung haben die Stadtsilhouette, die „fünfte Fassade“ der Stadt, erheblich verändert – zu ihrem Nachteil. Die differenzierte Dachlandschaft wurde abgelöst durch eine willkürliche, beliebige Ansammlung von meist zu großen, unproportionierten Flach- und sonstigen Dächern mit hitzeabstrahlenden Kiesschüttungen sowie Gebäude mit Blech- oder Glasabdeckungen. Unterbrochen, ,„gegliedert“, ist diese Situation durch ebenso willkürliche, zufällig angeordnete technische Auf- und Ausbauten, Infrastrukturen wie Aufzüge und Lüftungsanlagen. Jüngst realisierte Bauten haben dies verstärkt – abzulesen an dem Areal A1 neben dem Hauptbahnhof mit den Großverwaltungen der Landesbank Baden-Württemberg, Bauten wie der Stadtbibliothek, dem Milaneo und den Pariser Höfen. Aber auch andernorts gilt dies – zu nennen sind das Gerber, das Caleido, das Dorotheen-Quartier oder das City-Gate.

In Zukunft werden die Stuttgarter ihre Besucher nur noch selten tagsüber, meist nur noch nachts auf die Höhen führen, denn dann ist das Chaos kaum sichtbar, blendet das Lichterpanorama.

Begrünungspläne als Teil der Baugenehmigungsunterlagen

In allen Städten, vor allem in unserer von oben einsehbaren Stadt hätte die Stadtverwaltung schon längst mit den Baugenehmigungsunterlagen auch eine qualifizierte „fünfte Fassade“ unter Einbeziehung und Darstellung der jeweiligen Umgebung von den Auftraggebern und Architekten verlangen müssen. Nicht nur als Ergebnis innerer Überlegungen, sondern als Ergebnis ernsthafter Bemühungen um einen qualifizierten Draufblick. Mit gleicher Berechtigung müssten endlich Begrünungspläne als Teil der Baugenehmigungsunterlagen gefordert werden.

Um beide Forderungen mit Qualität erfüllen zu können, müssten jedoch übergeordnete Überlegungen und Konzepte zur Verfügung stehen, die die kulturellen, städtebaulichen, historischen, klimatologischen, ökologischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen enthalten. Keine formalen Vorgaben, keine Empfehlungen bestimmter Dach- formen – etwa geneigtes oder flaches Dach. Weit wichtiger sind das grundsätzliche Wissen und Können der Verantwortlichen über das Thema Dach.

Mit dem Befreiungsprozess im 19.Jahrhundert, der Befreiung vom Eingebundensein in das Verbindliche, zerbrach der Formenkanon, setzte der Hässlichkeitsprozess ein. Die Freiheit inthronisierte den Geschmack. Es wurde nicht nur alles möglich, sondern auch zulässig. Dies betraf sämtliche formalen Äußerungen, vom Meublement bis zum Städtebau, inbegriffen selbstverständlich auch das Dach, die Dachlandschaft. Damit wurde den Verantwortlichen, den Architekten, den Politikern, den für das Aussehen Zuständigen die schwierige Aufgabe übertragen, mit ihrem Wissen und Können den Menschen eine angenehme und angemessene Umgebung und so auch eine erfreuliche Dachlandschaft zu schaffen.

Positives für die menschlichen Sinne

Fundamentale Grundlage müsste hierbei die Kenntnis über die „condition humaine“, das Feld und das Maß der menschlichen Bedingungen sein und dass sich diese über Jahrhunderte nicht änderten und auch in Zukunft nicht ändern werden. Zum Beispiel wie weit die menschliche Stimme trägt, das menschliche Auge erkennen, das menschliche Ohr hören kann, was die menschlichen Sinne positiv registrieren können.

Doch zu befürchten ist, dass hierzu weitgehend nicht nur das Wissen, sondern vor allem das Bewusstsein fehlt. Verkannt werden wird weiter, dass der Hässlichkeitsprozess nicht aus technischen, sondern aus geistigen Prozessen resultiert. So muss aber die Alltagswelt und mit ihr die „fünfte Fassade“ weiter verkommen, das Provinzielle das Metropolhafte weiterhin ablösen.

Roland Ostertag lebt und arbeitet als Architekt in Stuttgart.