Der sehbehinderte Rolf Seltenreich zeigt auf die verstellte Blindenleitlinie Foto: StN

Einige Hindernisse erschweren blinden Besuchern derzeit den Gang über den Stuttgarter Weihnachtsmarkt. Denn etliche der dortigen Marktbuden stehen direkt auf der Blindenleitlinie.

Stuttgart - Der Duft von heißen Maroni, Adventsgesänge, das haptische Vergnügen eines samtweichen Nikolausbarts – auch für Blinde hat der Weihnachtsmarkt viele Eindrücke zu bieten. Doch der Genuss ist nicht ungetrübt. Dies stellten kürzlich Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen Baden-Württemberg, und ihr Begleiter fest.

Dieser heißt Rolf Seltenreich; der sehbehinderte Mannheimer saß 18 Jahre bis 2006 für die SPD als Abgeordneter im Stuttgarter Landtag. Vor wenigen Tagen schlenderten die beiden an Eisbahn und am Königsbau entlang über den Schlossplatz in Richtung Königin-Olga-Bau, wo eine Anhörung der Pflege-Enquete-Kommission stattfand. Plötzlich bemerkte der 66-jährige Seltenreich dass einige der Weihnachtsmarktstände direkt auf der Blindenleitlinie stehen. „Ja, wer stellt denn die Buden so dackelhaft hin“, war die erste Reaktion. Damit falle die Orientierung für blinde oder sehbehinderte Menschen ersatzlos weg. „Noch schlimmer: Wenn jemand ohne sehende Begleitung unterwegs ist, und nur mit dem Langstock sich den Weg ertastet, läuft er oder sie direkt in die Bude rein“, so Pagel-Steidl.

Sogar der Weg zum Aufzug zur Stadtbahnhaltestelle Schlossplatz war zugestellt – durch eine Bude und zudem durch einen transportablen Stromverteilerkasten. „Wenn da ein Blinder aus dem Aufzug kommt und nach vorne geht, knallt der doch wie der Mops voll auf die Bude“, mokiert sich Pagel-Steidl in schwäbischem Tonfall. Dabei sei es erst wenige Wochen her, dass Landes-Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) die Inklusions-Kampagne „Du Ich Wir, alle inklusive“ vorstellte. Inklusion, eine kostspielige Angelegenheit? Nicht unbedingt. In diesem Fall „hätte Inklusion keinen Cent gekostet, sondern nur ein bisschen mehr Nachdenken und bewusstes Handeln.“

"Zeichen typischer Gedankenlosigkeit"

Jutta Pagel-Steidl hat sich an die städtische Behindertenbeauftragte Ursula Marx gewandt. Diese hält, wie sie auf Anfrage erläutert, die Situation auf dem Schlossplatz für „ein Zeichen typischer Gedankenlosigkeit“ und dafür, dass die Anliegen der blinden Mitmenschen in Stuttgart noch weniger im Fokus stünden als etwa bei Rollstuhlfahrern. Es könne doch nicht angehen, dass ein Blinder aus dem Aufzug steige, sich mit seinem Stock an den Leitlinien orientiere, „und rennt dann gegen eine Weihnachtsbude“. Sie selbst sei erst tags zuvor mit ihren Enkeln auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, „und da habe ich etliche blinde Menschen herumlaufen sehen“. Generell gebe es in Sachen Blindenleitlinien „in Stuttgart einen Riesennachholbedarf“, urteilt Marx. Die Lage auf dem Schlossplatz sei „ein Zeichen, dass man auf diesem Auge blind ist“.

Ausrichter des Weihnachtsmarkts ist die Veranstaltungsgesellschaft in.Stuttgart. Ähnliche Klagen von Blinden oder Sehbehinderten , so deren Sprecher Jörg Klopfer, „sind bei uns in den letzten zehn Jahre nicht aufgetauscht“. Der Aufbau der Stände erfolge im Übrigen nicht wahllos, sondern in Absprache und mit Genehmigung durch das Amt für öffentliche Ordnung.

Eventuell andere Aufstellung der Buden

Gleichwohl werde sich in.Stuttgart mit der Stadt in Verbindung setzen, „wie wir das in Zukunft besser lösen können“. Da komme eventuell eine andere Aufstellung der Buden in Frage, vielleicht auch provisorische Blindenleitlinien – dies sei aber lediglich eine erste Idee, erklärt Klopfer. Kurzfristig wolle er aber keine großen Verbesserungen versprechen. In „den wenigen Tagen“ bis zum Ende des Weihnachtsmarkts am 23. Dezember werde es wohl keine Möglichkeit geben, die schweren Buden großartig umzustellen.

Nach Auskunft eines Rathaussprechers sind im Vorfeld des Weihnachtsmarkts eine Vielzahl von Fachbehörden und Dienststellen beteiligt, welche im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Aufplanung und den beabsichtigten Ablauf beurteilen und Einwände oder Hinweise einfließen lassen. Auf den Bereich am Aufzug zur Stadtbahn am Schlossplatz zwischen dem Pavillon und der Bolzstraße werde durch das Ordnungsamt bei allen Arten von Veranstaltungen ein besonderes Augenmerk gerichtet sein.

Aus diesem Grund finde sich in der Festsetzung gegenüber dem Veranstalter, also in.Stuttgart, unter Ziffer 3.6 auch folgende Auflage: „Auf dem Schlossplatz/Königstraße ist der Zugang zur Stadtbahnhaltestelle hinter dem Stand Nr. Schl 12 (Schröter) uneingeschränkt freizuhalten und gut erkennbar zu beschildern.“ Bei der Abnahme der Veranstaltung sei dies auch umgesetzt worden.

Die Behindertenbeauftragte Marx will sich wegen des Weihnachtsmarkts jetzt ans Ordnungsamt sowie an die Bezirksvorsteherin Stuttgart-Mitte wenden. Allerdings, so ihre Erfahrung: „Oft schiebt einer dem anderen die Verantwortung zu.“

Wissen, was wichtig ist – abonnieren Sie hier den StN-Newsletter