Am Standort Lampoldshausen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt richten die Studenten die Heros 2 probeweise auf. Kommende Woche wird die Rakete in Nord­schweden gestartet. Foto: Martin Stollberg

Der Countdown läuft: Stuttgarter Studenten der Luft- und Raumfahrttechnik wollen mit einer selbst gebauten Rakete einen Weltrekord knacken. Eindrücke von den Vorbereitungen.

Stuttgart/Hardthausen am Kocher - Esrange Space Centre, 22. Oktober 2015, der Countdown beginnt: five, four, three, two, one. Ein Feuerstrahl, Schnee wirbelt von den Bäumen, dann bohrt sich die Heros fauchend in den nordschwedischen Himmel. Nach wenigen Sekunden beendet ein dumpfer Knall den Flug. Die Rakete überschlägt sich und stürzt wie eine abgeschossene Krähe in die Tiefe. Beim Aufprall wird die Heros schwer beschädigt. Einziger Trost für ihre Schöpfer: Die Elektronik funktioniert noch tadellos. Das Wrack kann geortet und nahe des Polarkreises geborgen werden.

Vor zehn Jahren wurde an der Universität Stuttgart das Projekt Hybrid Engine Development gegründet. Studenten sollten einen Raketenantrieb entwickeln, bei dem ein fester und ein flüssiger Treibstoff kombiniert werden. 2012 bot sich durch ein neues Förderprogramm des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) erstmals die Möglichkeit, eine komplette Experimentalrakete zu konstruieren. Seither trifft sich eine Stuttgarter Studentengruppe regelmäßig in der schwäbisch-fränkischen Provinz, um an der Heros zu basteln. Der DLR-Standort Lampoldshausen ist weltweit für seine exzellenten Raketentriebwerksprüfstände bekannt.

Das Forschungszentrum liegt verborgen im Harthäuser Wald. Besucher betreten zunächst ein modernes Ausstellungsgebäude, in dem Exponate aus einem halben Jahrhundert Raumfahrtgeschichte zu sehen sind: von der Brennkammer der sogenannten Wasserfallrakete aus den 1940ern bis zu einem Vulcain-2-Triebwerk aus einer aktuellen Ariane-5-Rakete – 3,45 Meter hoch, 2,10 Meter Durchmesser. Würde sich Bruce Willis im Astronautenanzug vor die Monsterdüse stellen, könnte man eine Szene für ein Hollywood-Weltraumepos drehen. „Macht euch um mich keine Sorgen, ich kriege das schon hin!“, würde der coole Space-Captain sagen, bevor er sich daranmacht, einen Asteroiden zu zerstören, der auf die Erde zurast.

Ein neuer Prüfstand für die Ariane

In der Realität taucht der Projektleiter Mario Kobald, 34, auf und lädt zur Rundfahrt über das Versuchsgelände ein. Die Straße, die sich durch das hügelige Areal windet, ist nach „Professor Sänger“ benannt, jenem Ingenieur, der 1959 die ländliche Raumstation gründete. In den umliegenden Dörfern haben sich die Bürger längst an all den Schall und Rauch gewöhnt, der hier erzeugt wird. Wenn die Forscher das Triebwerk einer Großrakete zünden, was durchschnittlich einmal wöchentlich passiert, legt sich ein Lärmteppich über die friedliche Landschaft. Der Boden zittert, weiße Wolken steigen auf. In der Regel ist es bloß Wasserdampf, der bei bestimmten Wetterlagen Minuten später als monsunartiger Regen wieder vom Himmel fällt.

Kobald lenkt das Dienstfahrzeug in Schrittgeschwindigkeit an den Prüfständen P1 bis P5.1 vorbei: graue Betonsilos mit einem komplizierten Innenleben aus Rohren, Leitungen und Sensoren. P5.2 für das Ariane-6-Triebwerk ist im Bau, der Erstflug der neuen europäischen Trägerrakete soll 2020 erfolgen. Sie wird 62 Meter lang sein und eine bis zu 6,5 Tonnen schwere Last Zigtausende Kilometer ins All befördern können.

Ein paar Hundert Meter weiter, im Gebäude M11.5, bastelt die Stuttgarter Studentengruppe an einer deutlich kleineren Weiterentwicklung, der Heros 2. In einer Ecke stehen Überreste des Vorgängermodells: Geschmolzenes Aluminium und geborstenes Karbon sind bittere Andenken aus Nordschweden.

Nach dem Absturz der Heros im vergangenen Jahr fahndeten die Nachwuchsraketenbauer monatelang nach der Ursache. Der Fehler wurde inzwischen gefunden, davon ist der Projektleiter Kobald überzeugt: „Das Lachgas hatte in der Startphase nicht die richtige Temperatur. Dadurch kam es zu einer verstärkten Instabilität im Triebwerksbereich.“ Mit stärkeren Heizern und einer genaueren Messtechnik dürfte das Problem nicht mehr auftreten. „Unsere letzten Tests liefen optimal.“

Ein schwarzes Ofenrohr mit orange-weiß gestreifter Zipfelmütze

Mehr als hundert Mal haben die Studenten ihr Triebwerk mittlerweile versuchsweise gezündet. Ihr Miniprüfstand ist in einem Stahlcontainer untergebracht, der an der Stirnseite geöffnet ist. Vor jeder Zündung muss das Gebiet abgesperrt werden, und die Betriebsfeuerwehr rückt vorsorglich an. Erst wenn alle Ampeln an der Professor-Sänger-Straße Rot zeigen und die Labore ringsum evakuiert sind, darf das Triebwerk seine drachenmäßige Flamme spucken. Noch in 25 Meter Entfernung brennt die Hitze kahle Flecken ins Gras.

Heros 2 ist siebeneinhalb Meter hoch, hat eine Schubkraft von 10 000 Newton und sieht aus wie ein schwarzes Ofenrohr mit orange-weiß gestreifter Zipfelmütze. Von der Spitze bis zu den Finnen wurde die Rakete von den Studenten selbst konstruiert und gebaut. Christian Schmierer, 28 Jahre alt und mittlerweile Doktorand, ist seit Ende 2012 dabei. „An der Uni bekommen wir die Grundlagen der Luft- und Raumfahrttechnik vermittelt, aber nicht, wie man eine Rakete baut“, sagt er. „Ich habe bei diesem Projekt enorm viel gelernt.“

In den Sommersemesterferien wurden Fahrgemeinschaften gebildet, die täglich von Stuttgart nach Lampoldshausen pendelten. Die Hülle, das Triebwerk, die Elektronik, die Aerodynamik – alles wurde gegenüber der ersten Heros verbessert. Das selbst gesteckte Ziel ist der Höhenrekord für studentische Experimentalraketen, der aktuell bei 21,6 Kilometern liegt und von der Technischen Universität im niederländischen Delft gehalten wird. „Nach unseren Berechnungen könnte die Heros 2 theoretisch mit dreifacher Schallgeschwindigkeit eine Höhe von 40 Kilometern erreichen“, sagt Schmierer. Die Delfter sollten sich also schon mal darauf gefasst machen, dass ihr Rekord demnächst pulverisiert wird.

Nachwuches für eine Boombranche

Junge, ehrgeizige Luft- und Raumfahrtingenieure sind gefragt. In der Branche herrscht eine Aufbruchstimmung wie zuletzt in den 1960er Jahren. Heute geht es nicht mehr darum, wer als Erster Hunde, Affen oder Menschen zum Mond schießt, sondern wer es schafft, die Kosten für einen Raketenstart radikal zu senken.

In den kommenden Jahrzehnten könnten unzählige Satelliten ins All geschafft werden, um allen siebeneinhalb Milliarden Menschen einen Internetzugang zu schaffen. Auf Asteroiden könnten wertvolle Rohstoffe abgebaut werden. Zahlungskräftige Touristen könnten sich die Erde aus Tausenden Kilometer Entfernung angucken. All das wäre denkbar, wenn ein Paradigmenwechsel gelänge: weg von der gängigen Einwegrakete, hin zur Recyclingrakete.

Die Firma Space X des US-Amerikaners Elon Musk – gleichzeitig Boss des Elektroautoherstellers Tesla – arbeitet bereits an einem solchen wiederverwertbaren Weltraumtransporter. Musk peilt Kosten von weit unter einer Million Dollar pro Start an, zurzeit liegen sie zwischen drei und 100 Millionen Dollar – je nach Ladung und Strecke. Space X hat bereits Aufträge von der Nasa, dem Pentagon und privaten Unternehmen wie Facebook erhalten. Allerdings haben die hochfliegenden Pläne kürzlich einen herben Dämpfer erlitten: Am 1. September explodierte in Cape Canaveral eine Space-X-Rakete und zerstörte dabei auch ihre Fracht – einen 195 Millionen Euro teuren Kommunikationssatelliten. Selbst nach dieser Katastrophe schlägt Elon Musk optimistische Töne an. „Durch die Klärung der Explosionsursache wird unser gesamtes Raumfahrtprogramm robuster“, ließ er seine Firma mitteilen.

Wenn eines Tages Raumschiffe ferne Galaxien ansteuern, wird das nicht nur solchen kühnen Geschäftsmännern zu verdanken sein, sondern auch Generationen von Ingenieuren, die im Harthäuser Wald nach effektiven Antriebskonzepten fahnden. Der Haupttreibstoff der studentischen Experimentalrakete Heros 2 ist Paraffin, gemeinhin als Kerzenwachs bekannt. Das klingt nicht nach einer spitzenmäßigen Innovation, und doch erkannten erst vor wenigen Jahren Wissenschaftler der amerikanischen Eliteuniversität Stanford, dass das Gemisch aus gesättigten Kohlenwasserstoffen der Raketenantriebsstoff der Zukunft sein könnte: Eine Explosionsgefahr ist faktisch nicht vorhanden, Paraffin kann aber ungeahnte Kräfte entwickeln. Außerdem ist es – wie von den Behörden in den USA und Europa zunehmend gefordert – ein „Green Propellant“, ein umweltfreundlicher Energielieferant.

In dem Container, der bereits per Lkw von Lampoldshausen in Richtung Polarkreis unterwegs ist, finden sich folglich neben der in Einzelteile zerlegten Heros 2 auch einige Zylinder aus schwarzem Kerzenwachs. Am Montag fliegt die Studentengruppe von Stuttgart über Stockholm nach Kiruna. Von dort aus ist es eine 45-minütige Autofahrt bis zum Esrange Space Centre. Tags drauf beginnen die aufwendigen Startvorbereitungen. Wenn das Wetter mitmacht, wird die Heros 2 Ende kommender Woche an einem gelben Stahlgerüst aufgerichtet. Dann folgt der zweite Countdown für das Uniprojekt Hybrid Engine Development. Es wird ein kleiner Schritt für die Menschheit sein, aber vielleicht ein großer Sprung für 15 Studenten der Luft- und Raumfahrttechnik.