Überfüllte Boote und viel Leid begegnen Mattes Szodrak (oben links) und anderen Helfern der „Sea-Watch“ bei ihren Einsätzen im Mittelmeer. Foto: Fabian Melber/Sea-Watch

Einmal im Jahr tauscht Mattes Szodrak sein Wohlfühlleben gegen die harte Realität. Wenn er mit der Sea Watch rausfährt, begegnet ihm sehr viel Leid. Gefahren lauern auch auf ihn.

Stuttgart - Nein, seine Freundin darf nicht mit, wenn er zur Flüchtlingsrettung mit dem Seenotrettungskreuzer „Sea-Watch“ ausrückt. „Ich will es nicht, weil ich Angst um sie hätte“, sagt Mattes Szodrak und schüttelt den Kopf. Das Klima auf See habe sich seit dem vergangenen Jahr verändert, die libyschen Milizen feuerten hin und wieder Schüsse auf die Schiffe der Helfer ab. Auch die „Sea-Watch“ war schon in Gefahr gewesen. Einem Freund hätten die Libyer mit ihrem Schiff den Weg abgeschnitten, es wäre fast zur Kollision gekommen. Szodrak fährt trotzdem raus: „Weil ich ein 1,82 Meter großer Kerl bin, der sich wehren kann.“

Ob er denn Nerven wie Drahtseile habe? Das glaube er schon, sagt der Johanniter-Rettungssanitäter, der alltags in Zuffenhausen seine Einsätze fährt. Aber er sei auch nah am Wasser gebaut. Das Elend, das er erlebt, geht ihm nah. Und nicht nur das. „Gerüche sind ganz schlimm!“ Kurz verfinstert sich seine Miene – ein eher ungewöhnlicher Zustand bei dem sonst meist strahlenden 34-Jährigen. In den zwei Wochen, in denen er durchs Mittelmeer kreuzt und Flüchtlinge rettet, hält er oft die Luft an. In den Schlauchbooten sei eine Mischung aus Benzin, Salzwasser, Benzin, Erbrochenem, Urin, Kot und Blut. „Und da sitzen die Menschen drin. Wenn sie dann offene Wunden am Fuß haben, infiziert sich das natürlich.“

Statement gegen Flüchtlingspolitik der EU

Schon seit 2015 verbringt der Rettungssanitäter seine Jahresurlaube auf dem Schiff. Als er vor gut zwei Jahren beschlossen hatte, sich zu engagieren, war klar: Es musste mit Flüchtlingspolitik zu tun haben – „weil ich die Politik der EU nicht leiden kann. Wir schotten uns komplett ab, obwohl wir mit schuld dran sind, dass Menschen flüchten.“ Daneben bewegt ihn auch ein Leitspruch seines Arbeitgebers: „Aus Liebe zum Leben“. Der passe hier doch auch perfekt, sagt der Mann, der nach Astrid Lindgrens Räuberhauptmann benannt wurde, und lächelt.

Auf der „Sea-Watch 2“ – dem zweiten Boot der Rettungsflotte – fahren sie mit neun bis zwölf Mann Besatzung raus. Einen Tag dauert die Fahrt von Tripolis ins Einsatzgebiet im Mittelmeer, 24 Seemeilen vor der Küste. Die Rückfahrt benötigt ebenfalls einen Tag. Dazwischen fahren sie das Gebiet ab, das etwa so groß ist wie das Saarland. Manchmal treffen sie auf Flüchtende in Not, manchmal werden sie von der Seenotrettungsleitstelle MRCC in Rom zu einem Einsatzort geschickt.

2016 an Rettung von 6600 Flüchtenden beteiligt

Wenn das Meer ruhig ist, wird es für die Helfercrew oft turbulent. Beim letzten Einsatz 2016 hatten sie sieben Tage lang Flaute – und waren laut Szodrak zum Schluss an der Rettung von 6600 Menschen beteiligt. Mal spielt er den Kindergärtner und unterhält junge Flüchtlinge, mal ist er Friseur und wäscht einem Flüchtenden die Haare, oft sind auch seine Kenntnisse als Sanitäter gefragt. „Ja, man ist alles“, so Szodrak.

Die „Sea-Watch 2“ bietet rund 300 Menschen Platz, bis diese dann von Schiffen der Kriegs- oder Handelsmarine aufgenommen werden. An Bord nehmen sie die meist afrikanischen Flüchtlinge nur, wenn deren Leben durch die Lage auf See bedroht ist, etwa weil ihr Boot nicht trägt. „Die meisten können nicht schwimmen.“ Oft muss die Crew in schnell einschätzen, wie kritisch die jeweilige Situation ist. Minuten und Stunden können über Leben und Tod entscheiden.

15 Menschen erstickten während der Wartezeit

So wie neulich, berichtet der Mann, der in der Nähe von Bietigheim (Kreis Ludwigsburg) wohnt und in seiner Freizeit sonst gern mit der Freundin klettern geht. Das zweistöckige Holzboot war mit 500 Menschen besetzt, viel zu vielen, viel zu eng. Die Menschen auf ihr Schiff zu holen wäre zu gefährlich geworden, weil sie nicht allen hätten Platz bieten können. „Wenn ein Tumult ausbricht, und alle gehen zu einer Seite, dann kentert das Schiff – und die Menschen unter Deck sterben alle.“

So mussten sie auf ein Marineschiff warten. Acht Stunden haben sie um das Holzboot ihre Runden gedreht, bis die Unterstützung endlich da war. „In den acht Stunden sind 15 Menschen unter Deck erstickt. Wir konnten nichts tun“, sagt er traurig. Solche Situationen gehen ihm sehr nahe. Aber: „Man baut sich Überlebensstrategien - Strategien, wie man mit solchen belastenden Situationen umgeht.“ Zwar wolle er es nicht, doch eine kleine Hülle baue er schon auf. „Ich mache das mit Humor. Ich hätte sonst keine Chance, dort zu überleben.“

Dass die Politiker nicht mehr unternehmen, versteht Szodrak nicht. Es brauche sichere Fluchtwege für die Menschen und eine Seenotrettung, die nicht von zivilen Organisationen gestemmt werden müsse. Ob er mal nachvollzogen habe, was aus den Geretteten geworden ist? „Niemals!“ Das wolle er auch nicht wissen. „Ich stelle mir lieber vor, dass sie irgendwohin kommen, wo sie sich wohlfühlen.“