Noch zwei Tage: Dann können Besucher Stuttgart wieder vom Fernsehturm aus überblicken. Foto: dpa

Die Zukunft des Stuttgarter Fernsehturms als Besucherattraktion hing an einem seidenen Faden. Der Experte Udo Kirchner hat die Wiedereröffnung mit einem neuen Brandschutzkonzept möglich gemacht. Im Interview erklärt er, wie das ging.

Stuttgart - Herr Kirchner, der Fernsehturm war fast drei Jahre gesperrt. Hand aufs Herz: Gab es da Zeiten, wo selbst Sie dachten: „Das klappt nicht. Der Turm wird zubleiben“?
In meinem Beruf denkt man so etwas nicht. Da ist man Optimist. Auch wenn es im Fall des Stuttgarter Fernsehturms anfangs nicht leicht war, weil wir da viel sortieren mussten, um den Sachverhalt herauszuarbeiten. Dass ich es mit dem ersten und von Fritz Leonhardt fantastisch konstruierten Fernsehturm der Welt zu tun hatte, hat mein Ingenieurherz nicht kaltgelassen. Es gab Situationen, wo es eng zu werden schien. Hinschmeißen wollte ich aber nie. Zumal auch die Aufgabe eine besondere war.
Was war diese Besonderheit der Aufgabe?
Das hatte weniger mit dem Fachlichen zu tun. Da haben wir in den vielen Jahren schon sehr gut gelernt, mit einer sachorientierten Analyse zum Ziel zu kommen. Aber es ist immer etwas schwieriger, wenn ein Objekt so sehr im Interesse der Medien und der Öffentlichkeit steht. Da kommen viele Anregungen, und man setzt sich manchmal mehr mit Meinungen auseinander als mit Sachverhalten, die man sich selbst erschlossen hat.
Sie hatten es beispielsweise mit obskuren Vorschlägen zu tun, wie man außen einen zweiten Rettungsweg schaffen könnte.
Unsere allererste Aufgabe war, 14 in der Öffentlichkeit aufgekommene Vorschläge fachlich zu bewerten im Hinblick auf Realisierbarkeit, Kosten und Aspekte des Denkmalschutzes. Das waren die ersten Wochen unserer Tätigkeit zwischen März und Juni 2013. Parallel stiegen wir in eigene Überlegungen ein.
Sie haben die 14 Vorschläge von anderen Ingenieuren oder Hobbyingenieuren oder Zeitungslesern und Radiohörern plattgemacht.
Nein, nein, nicht plattgemacht. Es waren ja charmante Lösungen dabei. Nur, ein Ingenieur denkt immer, dass es noch eine bessere Idee geben müsste. Das hat mich angetrieben. In der Phase haben wir uns gesagt, wenn denn Brandlasten entlang des Rettungswegs im Schaft des Turmes das Problem sind und man keinen anderen Rettungsweg schaffen kann, dann muss man bei den Brandlasten eine Lösung finden. So kam es ja auch.
Was war der skurrilste Lösungsvorschlag?
Ich würde nicht sagen, dass die Vorschläge skurril waren. Sie waren alle gut gemeint. Aber dass man beispielsweise mit einem Hubschrauber 300 Menschen von der Aussichtsplattform retten möchte, ist fachlich schon sehr, sehr ambitioniert.
Sie gingen einen anderen Weg. Jetzt gibt es im Turmschaft gar keine Brandlasten mehr?
Das ist so. Ja. Wir haben sechs Türme in Deutschland, bei denen es zurzeit eine Publikumsnutzung gibt. Jeder Turm ist ein Stück weit anders. Aber überall gibt es nur eine Treppe. Und überall dort muss man diese Interaktion zwischen Aufzug, Treppe und Kabel-Installation irgendwie lösen. Wenn ich das vergleiche, ist es in Stuttgart sehr gut gelöst.
Wie haben Sie das geschafft?
So etwas gelingt nie mit nur einer Maßnahme. Es war sehr hilfreich, dass der SWR sich viele Gedanken machte und einen Weg fand, mit moderneren und weniger Kabeln zurechtzukommen. Zweitens ist es mit Hilfe der Planer und der Bauleitung gelungen, die Kabeltrassen im Turmschaft zu konzentrieren. Die waren bisher teilweise an der Außenwand in der Nähe der Treppe angebracht und konnten konzentriert werden an einem Steigepunkt neben dem Aufzugsschacht.
Wozu hat man Sie dann gebraucht?
Unser Beitrag war, dass wir die sehr neue Technik der Einblasdämmung eingebracht haben. Das heißt, die Kabel werden mit einem nichtbrennbaren Material gekapselt innerhalb eines Blechgehäuses. Mit dem Effekt, dass sie sich wirklich nicht mehr an einem Brand beteiligen können. Das hatte man bisher noch nie gemacht, auf 130 Meter Höhe in einem kompletten Turmschaft solch eine Einblasdämmung einzubringen. Da waren technische Details zu lösen.
Inwiefern?
Sie müssen sich vorstellen, da kommt die Last von 130 Metern aus diesen Materialfasern zusammen. Da mussten Abfangkonstruktionen überlegt werden.
Das war’s dann aber?
Wir haben auch die sogenannten HF-Kabel, die Hochfrequenzkabel, als Gefahrenquelle ausgeschaltet. Das sind Sendekabel, die eine hohe Wärmeentwicklung haben. Deswegen kommt hier die Einblasdämmung nicht infrage. Stattdessen haben wir die Lösung der horizontalen Abschottung in Abständen von 2,50 Metern gefunden. Das heißt, dass die Sendekabel höchstens auf kurzen Abschnitten brennen könnten, und dort haben wir sie auch noch in einen Feuerschutzkanal eingehaust.
Horizontale Schottung heißt, Sie haben da etwas quer um die Kabelstränge gelegt?
Man hat einen Kasten aus Brandschutzplatten direkt an den Stützen, an denen die Kabel verlaufen, angebracht, und alle zweieinhalb Meter gibt es in diesem Kasten die horizontalen Schottungen.
Warum diese Lösung?
Das war die Erkenntnis aus dem Brand des Fernsehturms in Moskau, dass die HF-Kabel durchbrennen können, wenn sie nicht in sehr kurzen Abständen geschottet werden. Wir wenden im Stuttgarter Fernsehturm jetzt auch noch eine weitere neue Technik an. Die Kabel werden elektronisch überwacht, denn wenn ein Brand entstünde, würde er sich in der Regel vorher durch leichte Temperatur- oder Leistungsänderung ankündigen. Die Daten werden überwacht, so dass man die Kabel sofort abschalten und einen Brand verhindern kann.
Warum hat das alles so lange gedauert?
Das sah von außen vielleicht sehr lang aus. Für uns war diese Zeit aber sehr gut ausgefüllt. Der Turm wurde im März 2013 geschlossen, und wir hatten den Grundansatz und das Lösungskonzept im Sommer 2013 fertig. Es gab dann im Sommer auch erste Gespräche mit Branddirektion und Baurechtsamt, dass man es sich in diese Richtung vorstellen kann. Dann haben wir im Prinzip im zweiten Halbjahr 2013 die erforderlichen ingenieurmäßigen Nachweise erarbeitet.
Was muss man sich darunter vorstellen?
Wir hatten beispielsweise sehr intensive Untersuchungen zur Entrauchung, also wie der Rauch aus dem Schaft abgeleitet werden kann. Schließlich hatten wir im Januar 2014 eine Genehmigungsfähigkeit in Aussicht. 2014 haben wir mit allen Beteiligten die Details durchgesprochen. Viel Zeit kosteten die öffentliche Ausschreibung der Arbeiten und die damit verbundene Einhaltung von Fristen. 2015 kam dann die Realisierung. Es hat zwar gedauert, aber es war trotzdem eine konstruktive Umsetzung. Alle Beteiligten haben an einem Strang gezogen.
Wie steht es im Notfall um die Evakuierung? Der Besuch ist im Vergleich zu früher doch nicht eingeschränkt. Und auch Menschen mit Behinderung können den Turm weiterhin besuchen.
Ja. Das war uns sehr wichtig. Wie für die meisten Türme in Deutschland erfolgt die Evakuierung über die Aufzüge. Da kann man auf Rollstuhlfahrer oder auch Eltern mit Kinderwagen gezielt eingehen. Es gibt organisatorische Vorkehrungen, zum Beispiel muss für Behinderte ein Betreuer organisiert werden, aber der Turm ist auch für sie weiter zugänglich.
Die maximale Zahl der Besucher ist weiterhin 320?
Ja. In den Korbgeschossen sind dabei 150 Personen zulässig. Dann dürfen auf der Plattform noch 170 Besucher sein. Wenn zwei oder drei Rollstuhlfahrer auf dem Gastronomiegeschoss wären, dürften es dort halt nur noch etwa 100 Besucher sein. Pro Rollstuhlfahrer reduziert sich die Maximalzahl von 320 Besuchern um 20 Personen. Aber 320 Personen werden im Regelfall sowieso nicht erreicht. Das ist, sage ich mal, der Silvesterfall. Wenn viele Leute auf der Aussichtsplattform den Jahreswechsel erleben wollen.
Es gab, wie wir hörten, die eine oder andere technische Innovation. Die Lichtgestalt Udo Kirchner hat sich damit noch mehr profilieren können in der Branche – oder nicht?
Wir müssen immer noch arbeiten und bekommen nichts geschenkt. Es ist natürlich schöner, wenn Sie als Ingenieur ein Projekt fertig bekommen, als wenn der Flughafen, an dem Sie arbeiten, jahrelang geschlossen bleibt. Natürlich kommen jetzt auch Nachfragen zu anderen schwierigen Aufgaben.
Woran arbeiten Sie denn im Moment? Sind Sie jetzt der Mann für politisch sensible Projekte?
Ich versuche das. Im Moment haben wir ähnlich spannende Dinge, die aber noch vertraulich sind. Solche Projekte machen Spaß. Den ersten Fernsehturm der Welt mit einem so innovativen Brandschutzkonzept auszurüsten, das ist so ähnlich, wie wenn man als Ingenieur eine große Rheinbrücke baut.
Auch ganz praktisch betrachtet war die Realisierung des Konzepts im Stuttgarter Fernsehturm schwierig.
Bei der Umsetzung der Idee in der Wirklichkeit muss man sich oft an banalen Voraussetzungen orientieren. Das erklärt auch wiederum die Länge der Bauzeit. Es kann in diesem Turmschaft auf 130 Meter Höhe tatsächlich nur ein Team arbeiten, weil ein Werkzeug runterfallen und jemand gefährden könnte. Das ist anders als bei einem Projekt wie dem Gerber oder dem Milaneo. Dort kann man mit ein paar Hundert Leuten mehr rein, und die Arbeitstrupps treffen sich dann hoffentlich an einer Ecke.
Bei der Arbeit im Schaft wird es buchstäblich immer enger?
Man findet dort sehr unterschiedliche Situationen vor. Unten sind die Stützen im Turm frei stehend, oben sind sie wegen der Verjüngung des Turms an die Außenwand anbetoniert. Da muss man für beide Situationen und für den Übergang angepasste Lösungen finden. Das hat aber sehr maßgeblich die Bauleitung bewältigt. Wir hatten fantastische Firmen, die einen guten Job machten. Und das konnte man zuletzt auch nicht bei allen größeren Projekten in Deutschland sagen.
Nach menschlichem Ermessen werden Sie dem Stuttgarter Turm wohl kein neues Brandschutzkonzept mehr verpassen müssen?
Nein, wir haben da etwas auf Dauer und Nachhaltigkeit hingekriegt. Was man für einen Fernsehturm in Deutschland tun kann, ist in Stuttgart getan worden. Das sollte brandschutztechnisch jetzt mindestens wieder 60 Jahre funktionieren.
Alles ist wieder gut. Dann können Sie es jetzt ja einräumen: Die aufsehenerregende Schließung des Turms durch den OB – unnötig war sie doch. Das hätte man anders lösen können.
Ich weiß nicht, ob man Geschichte zurückdrehen kann. Was der Laie außerdem gern übersieht, ist das: Wenn eine Behörde irgendetwas durchsetzen will, kann sie das leider meistens nicht schrittweise tun. Verfahrens- und verwaltungsrechtlich betrachtet, muss sie im Prinzip Tatsachen schaffen. Das erklärt auch, dass es am Anfang hier ein heftiger Aufschlag war. Aber gerade Branddirektion und Baurechtsamt haben auch sehr geholfen. Die Nutzungsuntersagung hat schon eine Tür offen gelassen, durch die man dann auch gegangen ist.
Aus dem politischen Lebenslauf eines Oberbürgermeisters ist die Schließung so eines Publikumslieblings aber kaum mehr zu tilgen.
Mag sein, aber das ist Gott sei Dank kein technisches Thema. Die Sicherheit wurde jedenfalls erhöht. Man kann dort weiterhin Besucher empfangen. Ob es auch anders hätte gehen können, ist jetzt etwas müßig.